002 - Der Hexenmeister
ausgestattet war. ›Setzt Euch in diesen Sessel‹, sagte er. ›Ich werde Euch jetzt eine Weile hier im Dunkeln allein lassen, damit Ihr Euch sammeln könnt, dann komme ich zu Euch zurück.‹ Mit diesen Worten ließ er mich allein. Die tiefe Finsternis dauerte noch ein paar Minuten, dann blendete mich plötzlich strahlendes Licht. Ich befand mich in der Küche und saß auf dem Hocker vor dem Tisch.«
Wir schwiegen tief beeindruckt.
»Glaubt ihr an Wiedergeburt?« fragte Lionnel nach einer Weile.
»Bisher nie«, erwiderte Patrick mit der Sachlichkeit des Technikers. »Aber ich muss gestehen, nach dem, was heute Abend geschehen ist, halte ich es schon für möglich, dass man bereits einmal gelebt hat und aus diesem Leben noch irgendwelche Erinnerungen besitzt.«
»Eine andere Erklärung gibt es jedenfalls nicht für das Vorgefallene«, stimmte ich zu.
»Oder es ist ganz einfach Zauberei«, meinte Lionnel und wies auf die Figur. »Diese Zauberei, davon bin ich überzeugt, hat hier mit dem Männchen zu tun.« Er packte es mit entschlossenem Griff. »Seht einmal, jetzt ist es wieder ganz aus Blei, von dem Gold keine Spur mehr!«
Wir stellten fest, dass er recht hatte. Mit einer Mischung aus Furcht, Neugier und Abscheu betrachteten wir die kleine Bleifigur.
»Was sollen wir nur tun?« fragte Lionnel. »Wollen wir das Ding einfach in die Seine zurückwerfen?«
»Das wäre wahrscheinlich am vernünftigsten«, meinte Patrick. »Aber ich kann Unklarheiten nicht ausstehen. Ihr seid ja beide heil von euren Ausflügen in die Vergangenheit zurückgekommen. Sehen wir doch erst mal, wie es weitergeht.«
»Ganz meiner Meinung«, stimmte Hervé zu.
»Dafür bin ich auch«, sagte Lionnel, und auch ich war dafür.
Vor dem Fenster wurde es schon hell. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Wir machten uns noch einmal Kaffee, sprachen von neuem über alles, was geschehen war, und verließen gegen sieben Uhr morgens meine Wohnung.
Wir gingen am Fluss entlang, um etwas frische Luft zu schöpfen. Als ich am anderen Ufer die Türme von Notre-Dame sah, wurde mir klar, dass sich durch die Ereignisse dieser Nacht mein Leben grundlegend verändert hatte. Plötzlich sagte Lionnel:
»Ich möchte das tote Mädchen noch einmal sehen. Sie ist doch sicher im Leichenschauhaus. Es würde mich interessieren, ob man inzwischen weiß, wer sie ist.«
Eine halbe Stunde später betraten wir das düstere Gebäude, in das man die Tote gebracht hatte. Man zeigte sie uns.
Das schöne Gesicht wirkte ganz friedlich. Der Zauber dieser edlen Züge war jetzt noch stärker als zuvor.
»Es ist meine Kusine«, flüsterte Lionnel uns zu.
»Deine Kusine?« wiederholte Patrick.
»Ja, ganz bestimmt. Ich meine, es war meine Kusine … damals, 1408. Sie war die Nichte des alten Mannes, den du gesehen hast, Hervé. Jetzt erinnere ich mich daran.«
»Das ist zum Verrückt werden«, brummte Hervé. »Sie ist doch schon seit gestern früh tot. Und vor ein paar Stunden hat sie mir etwas zu essen gebracht und mit mir gesprochen.«
Plötzlich brach ich in Tränen aus. Der Angestellte, der uns begleitete, fragte mich, ob ich sie gekannt hatte.
»Nein«, stieß ich hervor. »Sie sieht nur jemandem sehr ähnlich, der mir nahe stand und den ich kürzlich verloren habe.«
»Weiß man jetzt, wer sie ist?« fragte Patrick.
»Ich glaube nicht«, erwiderte der Angestellte. »Außer Ihnen ist noch
niemand gekommen, um sie anzusehen. Sie hatte nichts bei sich, nur
ein Medaillon, das sie um den Hals trug. Die Polizei hat es mitgenommen.«
Wir waren sehr bewegt, als wir das Leichenschauhaus verließen.
»Ist dir sonst noch etwas eingefallen?« fragte ich Lionnel, als wir wieder auf der Straße standen.
»Nein. Nur dass wir zusammen aufgewachsen sind, weil sie Waise war. Ein Bruder von ihr lebte noch in Italien. Aber das ist alles.«
Patrick kaufte eine Zeitung und blätterte darin, während wir weitergingen. Plötzlich blieb er stehen.
»Hier!« sagte er. »Lest mal.«
UNBEKANNTE ERTRÄNKTE SICH IN DER SEINE.
Das junge Mädchen, dessen Leiche gestern aus der Seine geborgen
wurde, konnte inzwischen identifiziert werden. Sie hatte keine Ausweispapiere bei sich, doch im Lauf des gestrigen Tages wurde in der Nähe der Stelle, an der das Mädchen den Tod fand, eine Handtasche aus der Seine gefischt. Sie gehört zweifellos der Toten, denn es befand sich ein Ausweis mit ihrem Foto darin. Ihr Name ist Laura Dosseda. Die Tote war zweiundzwanzig Jahre alt und
Weitere Kostenlose Bücher