002 - Der Hexenmeister
umrührte. Langsam ließ das Zittern meiner Finger nach. Ich konnte ein paar Schluck trinken. Fünf oder sechs Minuten verstrichen. Wir schwiegen.
»Nein, wir brauchen uns wirklich keine Sorgen zu machen«, wiederholte Lionnel. »Schließlich sind wir doch hergekommen, um dieser seltsamen Geschichte auf den Grund zu gehen und …« Er verstummte, und ich hob den Blick von meiner Kaffeetasse, um ihn anzusehen.
Er war verschwunden.
Jetzt packte mich das Grauen. Mein Zimmer, in dem ich mich immer so wohl gefühlt hatte, war mir plötzlich zu einem Ort des Schreckens geworden. Die Figur auf dem Tisch schien über geheimnisvolle Kräfte zu verfügen.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nur den einen Wunsch hatte: zu fliehen. Ich war aufgesprungen und wollte gerade in den kleinen Flur gehen, um die Wohnung zu verlassen, als ich von irgendwoher eine Stimme hörte. Es war eine unpersönliche, ruhige Stimme, die es vielleicht auch nur in meinem Kopf gab und die zu mir sagte:»Fürchte dich nicht. Es wird alles gut gehen. Das Erlebnis von neulich war ein Irrtum. Du wirst es nicht noch einmal erleben müssen. Bleib hier. Sieh die Figur an.«
Ich gehorchte. Plötzlich wich die Angst von mir, und ich empfand tiefes Vertrauen. Außerdem verspürte ich den Wunsch, Laura wieder zu sehen. Ich richtete den Blick auf das Männchen.
Und plötzlich war ich wieder in der Vergangenheit …
Ich befand mich auf dem Land. Es war heller Tag, und ich ging einen Weg entlang, der durch Wiesen und Felder führte. Rechts von mir sah ich ein Wäldchen und in der Ferne eine Stadt und ein Schloss. Die Häuser sahen aus wie auf alten Bildern. Erst nach ein paar Minuten wurde mir klar, dass es sich um Paris handelte – um Paris, wie es 1408 ausgesehen hatte.
Ich hatte keine Angst. Und ich wunderte mich auch kaum noch. Meine Empfindungen waren keinesfalls so turbulent wie bei meiner ersten Reise in die Vergangenheit, als ich mich plötzlich in einem finsteren, feuchten Verlies wieder gefunden hatte. Die Sonne strahlte vom Himmel. Am Weg stand ein blühender Kirschbaum. Es war Frühling.
Ich war mir allerdings bewusst, dass ich nicht nur der Mensch war, der jetzt im Jahre 1408 diesen Weg entlang ging, sondern auch noch ein anderer, der im 20. Jahrhundert zu Hause war. Ich lebte gleichsam zwei Leben. Diese Erkenntnis erschreckte mich nicht mehr. Während ich durch die freundliche Landschaft wanderte, stiegen alle möglichen Erinnerungen auf, die »dem anderen« gehörten, dem Menschen, der im Jahre 1408 gelebt hatte und der ich jetzt war. Dieser andere sah genauso aus wie ich, war genauso alt und fühlte auch so wie ich. Wir waren ein und dieselbe Person.
Mir fiel ein, dass ich gerade in dem Schloss zu meiner Rechten zu Mittag gegessen hatte. Einige Jahre zuvor war ich dort der Hauslehrer der Kinder des Grafen gewesen. Ich wusste, dass mein Freund Lionnel Dosseda – Maler und Zeichner, der es bereits zu Ansehen gebracht hatte – mir mit einer Kutsche entgegenkommen wollte, um mich dann zu jemanden mitzunehmen, den ich noch nicht kannte und mit dem ich eine sehr wichtige Unterredung haben sollte. Ferner wusste ich, dass ich Professor an der Universität war, seit sechs Jahren Witwer und Vater eines Sohnes, der bei meiner Tante auf dem Land lebte.
Ich schritt rüstig aus und hing meinen Gedanken und Erinnerungen nach. Als ich eine Wegbiegung erreichte, sah ich eine Kutsche näher kommen. Lionnel saß selbst auf dem Bock. Er sprang ab und drückte mir die Hand. Er trug einen an Kragen und Manchetten reichbestickten Rock und eng anliegende Kniehosen.
»Du hast also auch deine Wohnung verlassen«, begrüßte er mich. »Als ich in der Vergangenheit ankam, wusste ich schon, dass ich dich treffen würde. Ich habe mich in dieser Kutsche hier wieder gefunden. Wir sind miteinander verabredet, weil ich dich ganz im Geheimen zu jemandem führen soll. Komm, steig ein, ich fürchte, wir haben uns schon etwas verspätet.«
Ich setzte mich zu ihm auf den Kutschbock.
Dabei war ich in einer seltsamen Stimmung. Ich hatte Lionnel seit meiner Kindheit gekannt, doch jetzt, in meinem Leben in der Vergangenheit, wusste ich, dass ich ihn erst vor wenigen Monaten kennen gelernt hatte. Mein Freund Patrick Buez hatte ihn mir in einem Lokal vorgestellt, das wir oft zusammen aufsuchten. Lionnel war mir gleich sehr sympathisch gewesen mit seinem Temperament, seiner künstlerischen Begabung und seinem wachen Verstand. Vor ein paar Wochen hatte er mich gemalt.
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