002 - Der Hexenmeister
meine letzte Stunde nicht mehr fern ist. Wieviel Zeit bleibt mir noch? Zwei, drei Wochen? Oder weniger?
Der Gedanke an meinen baldigen Tod bedrückt mich nicht im geringsten. Ich habe nichts mehr, wofür ich leben möchte. Damals jedoch war ich voller Freude, an dem Tag nach unserem Experiment, im Paris des Jahres 1408. Wir alle waren glücklich über das, was der Meister erreicht hatte. Der Weg in eine glücklichere Zukunft schien uns gesichert. Doch in Wirklichkeit standen wir bereits kurz vor der Katastrophe.
Am 3. Mai hatte uns der Meister erneut zu sich gerufen, um mit uns über seine weiteren Pläne zu sprechen. Mehr als eine Stunde lang erläuterte er die neuen Experimente, die er plante. Es war ein großartiges Programm, das er uns darlegte. Sein Erfolg musste der Menschheit in ihrer täglichen Arbeit zahlreiche Erleichterungen bringen. Wir stellten eine Liste von bedeutenden Männern auf, denen wir in nächster Zeit unsere Experimente vorführen wollten. Sie sollten uns den Weg ebnen, damit wir nicht länger im Verborgenen arbeiten mussten. Wir waren überzeugt, dass sie in uns keine Zauberer und Hexenmeister sehen würden, wenn wir ihnen erklärt hatten, was wir zu tun vermochten und wie wir die uns sichtbaren Kräfte einsetzen wollten.
Michel Dosseda wollte einen Kreis von Gelehrten für uns gewinnen, die dann zusammen mit bedeutenden Persönlichkeiten der Verwaltung, angesehenen Bürgern und auch Würdenträgern der Kirche für unsere Ziele eintreten sollten, sobald sie sahen, dass diese dem Wohl der Menschheit dienten. Jeder von uns Schülern sollte Gespräche mit den Männern führen, die er hierfür geeignet hielt, um festzustellen, ob wir sie eventuell für diesen Kreis gewinnen konnten.
Wir rechneten damit, dass wir in etwa einer Woche die ersten Persönlichkeiten mit unseren Arbeiten vertraut machen konnten. Doch leider war es uns nicht mehr möglich, diesen Plan zu verwirklichen.
Am 8. Mai versammelten wir uns wieder abends beim Meister. Jeder berichtete, was er bei seinen ersten Gesprächen mit den von uns ausgewählten bedeutenden und einflussreichen Männern erreicht hatte. Ich persönlich war sehr zufrieden mit dem Ergebnis meiner ersten Kontaktaufnahme. Von den zwanzig Personen, mit denen ich vorsichtige Gespräche geführt hatte – es handelte sich ausschließlich um Männer, zu denen ich volles Vertrauen hatte – waren vierzehn lebhaft an unseren Plänen interessiert. Alle hatten mir ihr Ehrenwort gegeben, das sie mit niemandem über unser Gespräch reden würden.
Vier von uns waren noch nicht eingetroffen. Wir warteten mit dem Beginn unserer Besprechung auf ihr Erscheinen. Laura hatte uns Erfrischungen serviert. Wir unterhielten uns angeregt über die großartigen Möglichkeiten, die der Meister mit seiner Entdeckung für die Welt eröffnet hatte.
»Wenn der arme König Karl VI. nicht so krank wäre«, sagte Michel Dosseda, »würde ich mich direkt an ihn wenden. Er hätte sicher Verständnis für unsere Pläne und würde seine schützende Hand über uns halten. Er würde begreifen, dass es hier um einen Segen für die Menschheit geht. Aber wir können niemandem sonst bei Hofe vertrauen. Ja, es wird nicht leicht sein, unsere Pläne zu verwirklichen. Aber wir dürfen nicht den Mut verlieren. Wir sind es der Menschheit schuldig, dass wir das Wagnis unternehmen.«
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Jacques Vel trat ein. Hervé Migal folgte ihm auf dem Fuß. Beide sahen ganz verstört aus. Sie schienen gelaufen zu sein, denn sie rangen nach Atem.
»Was ist denn los?« fragte der Meister.
»Ich fürchte, wir sind alle in Gefahr«, erwiderte Jacques Vel. »Es ist etwas Schreckliches geschehen. Pater Hieronymus ist verhaftet worden. Man hat ihn gerade inmitten einer johlenden Menge abgeführt.«
Wir waren aufgesprungen und machten bestürzte Gesichter.
»Pater Hieronymus?« wiederholte der Meister. »Man hat ihn verhaftet? Aber warum denn?«
»Weil er leichtsinnig war«, sagte Jacques Vel. »Wir hätten ihn niemals in unsere Gemeinschaft aufnehmen dürfen. Wer dazu neigt, über den Durst zu trinken, ist meist nicht imstande, Geheimnisse für sich zu behalten.«
»Trinkt er?« fragte der Meister.
»Ja. Wusstet Ihr das nicht?«
»Nein … Ich habe zwar bemerkt, dass er einem guten Wein nicht abgeneigt ist. Aber dass er sich sinnlos betrinken würde, hätte ich nicht gedacht. Hat er das getan?«
»Leider ja. Er tut es nicht oft, aber jetzt ist es passiert. Und er hat
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