002 - Der Hexenmeister
Lippen.
Noch am selben Abend wurden wir vier, als wir uns in meinem Appartement trafen, wieder in die Vergangenheit versetzt, und zwar in meine Wohnung am Palais Royal.
Wir waren erst ein paar Minuten dort, als jemand draußen den Türklopfer betätigte. Ich öffnete. Es war Jacgues Vel. Als ich sein Gesicht sah, wusste ich, dass er schlimme Nachrichten brachte.
»Ein Glück, dass ich euch hier alle zusammen antreffe«, sagte er, »sonst hätte ich jeden einzeln zu Hause aufsuchen müssen. Wir müssen fliehen oder uns verstecken.«
»Was ist denn los?« fragte ich erschrocken.
»Pater Hieronymus hat alles gestanden. Sie haben ihn gefoltert. Er ist in den Händen der weltlichen Richter, und die sind froh, wenn sie dem meuternden Volk einen Hexenmeister zum Fraß vorwerfen können. Dann regt es sich weniger über die Steuererhöhungen auf. Ich habe es gerade erst erfahren.«
Wir schwiegen entsetzt.
»Und er hat unsere Namen angegeben?« fragte Patrick mit unsicherer Stimme.
»Das weiß ich nicht. Auf alle Fälle hat er den Namen des Meisters verraten und den von zwei oder drei anderen, aber ich weiß nicht, von wem. Dann ist er ohnmächtig geworden. Man muss ihn furchtbar gequält haben, und bestimmt hat er versucht, den Schmerzen standzuhalten.«
Lionnel war leichenblass geworden. »Weiß mein Vater Bescheid?« fragte er.
»Noch nicht. Geht sofort zu ihm. Wir müssen auch die anderen verständigen. Ich laufe zu Jean de la Brune. Hervé, sagt Ihr Hyacinthe Perrot Bescheid. Patrick, Ihr begebt Euch am besten zu Pierre Tresmissec und zu Paul Sirel. Macht schnell. Alle, die unserer Bruderschaft angehörten, müssen so schnell wie möglich unterrichtet werden über das, was geschehen ist. Und heute Abend treffen wir uns am üblichen Platz.«
Wir verließen in höchster Eile meine Wohnung. Ich lief mit Lionnel durch die dunklen Gassen, von Angst und Sorge gequält.
Es war schon zehn Uhr abends, aber die Straßen waren noch belebt, viel belebter als sonst. Diskutierende Menschen standen in Gruppen herum. Ich fing im Vorübergehen die Worte ›Pest und Hexenmeisterei auf. Wir blieben jedoch nicht stehen, sondern liefen in höchster Eile weiter.
Je näher wir unserem Ziel kamen, desto mehr Leute waren unterwegs. Einige liefen in derselben Richtung wie wir. Auch sie hatten es eilig. Was war geschehen? Wo wollten sie hin?
Die Antwort auf diese Frage, eine schreckliche Antwort, bekamen wir nur allzu bald.
Als wir uns dem Haus des Meisters näherten, bemerkten wir, dass Männer mit Fackeln vor dem großen Portal des Gartens standen. Die Schergen der weltlichen Richter waren schon da. Soldaten waren gekommen, um den Meister gefangen zu nehmen. Die wütende Volksmenge war bereits in den Garten eingedrungen. Wir kamen zu spät.
Doch vielleicht hatte der Meister schon erfahren, was geschehen war, und hatte die Flucht ergriffen. Vielleicht hatte ein gütiges Geschick ihn zufällig nicht zu Hause sein lassen, als die Häscher kamen, um ihn zu holen.
»Noch ist nicht alle Hoffnung verloren«, stieß Lionnel gequält hervor. »Vielleicht hat er sich mit Laura in die Kellerräume retten und durch den unterirdischen Gang entfliehen können.«
Doch noch während er das sagte, öffnete sich die Haustür. Soldaten mit Fackeln kamen heraus, und in ihrer Mitte ging, bleich, aber mit beherrschter, ernster Miene, Michel Dosseda. Man hatte ihn verhaftet, ehe er erfuhr, was geschehen war.
Schon brüllte die Menge los:
»Auf den Scheiterhaufen mit ihm! Verbrennt den Hexenmeister!«
Lionnel und ich waren verzweifelt. Wie versteinert standen wir da. Wir dachten nicht einmal daran, uns zu verstecken. Ich hielt nach Laura Ausschau, weil ich überzeugt war, dass man auch sie gefangen genommen hatte, doch ich sah sie nicht. Vielleicht war sie nicht zu Hause gewesen, als die Häscher kamen. Oder es war ihr gelungen, sich im letzten Augenblick zu verstecken.
Wir wurden von der Menge mitgerissen. Im zuckenden Licht der Fackeln zog sie johlend hinter der Wache und dem Gefangenen her.
Was sollten wir tun?
Wir ließen uns in der Menge mittreiben. Ich hatte nur ein Ziel: Laura wieder zu finden. Wenn sie mir jetzt nahe gewesen wäre, hätte ich sie in die Arme genommen, um sie nie wieder loszulassen.
Michel Dosseda hatte zwar mit so einem Vorfall nicht gerechnet, doch umsichtig wie er war, hatte er gewisse Vorkehrungen getroffen. Falls wir je gezwungen sein sollten, unsere Wohnungen zu verlassen, konnten wir uns in einem einsamen
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