0023 - Bei Vollmond kommt das Monster
Gesicht des Arztes ihren Lauf. Es wirkte grotesk, als die Brille von seiner Nase sprang, weil sich das Nasenbein knollenartig ausgebuchtet hatte. Die Brille landete auf dem Wagenboden vor dem Gas- und Bremspedal. Silla trampelte mit einem klobigen Fuß darauf, dass die Gläser zerbrachen und das Gestell zerknickte.
Seine Haare wuchsen bis auf die Schultern aus. Ehemals blond, hatten sie jetzt die gleiche Farbe wie die, die den Kopf des toten Monsters bedeckt hatten: schlohweiß. Sillas Augenbrauen fielen aus.
Geschwüre deckten die Augenhöhlen ab. Die Augen wurden wässrige, rot glühende hervorquellende Bälle, und der Mund konnte nicht mehr als solcher bezeichnet werden, sondern nur noch als geiferndes Höllenmaul, hinter dem sich wenige spitze Zähne und eine blaue Zunge verbargen. Am schlimmsten war es jedoch um die Gesichtshaut bestellt. Tiefe Falten zogen sich über alle Bereiche, dazwischen bliesen sich Eiterpusteln auf, die zum Teil zerbrachen und als scheußliche, nässende Schwären zurückblieben.
Er öffnete das Maul. Grässliche, tiefe Laute kamen über seine speichelnden Lippen. Als der Mirafiori durch das Dorf Vigliani fuhr und sein Haus in Sicht kam, lachte er abscheulich.
***
Professor Zamorra hatte den Wagen aus der Gemeinschaftsgarage des Anstaltkomplexes geholt. Es handelte sich um einen metallicgrauen Alfa Romeo 2000, den er in Pisa auf dem Flugplatz gemietet hatte. Jetzt saß er hinter dem Steuer, neben sich Nicole Duval, die sich mittlerweile vollständig angekleidet hatte. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug mit hochgeschlossener, aber enger schwarzer Bluse darunter.
Sanchini, der im Fond Platz genommen hatte, beugte sich vor und schaute auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war kurz nach zwei.
»Erkläre mir das noch mal, Zamorra«, sagte er und strich sich den eisgrauen Vollbart glatt. »Du meinst also, es hätte wirklich einen Sinn, nach Vigliani zu fahren und auf dem Friedhof in Rosa Terincas Grab zu sehen – ausgerechnet um diese Stunde?«
Zamorra reichte eine geöffnete Packung Zigaretten herum. »Der Geist der alten Wunderheilerin befindet sich nicht mehr auf dem Anstaltsgelände, dessen bin ich völlig sicher, Aldo. Erstens hat er in keiner Weise auf das Amulett reagiert, obwohl ich nahezu den ganzen Park durchquert habe. Zweitens spüre ich, dass er fort ist. Das ist eine Sache des Instinkts. Ich könnte dir keine sachliche Begründung dafür liefern. Nun nehme ich stark an, dass der Geist aus Furcht vorerst in seine Festung zurückgekehrt ist. Einziges Versteck für ein solches Wesen ist in einem Fall wie diesem sein Sarg, falls es nicht ein leerstehendes Haus, ein Kastell oder ein Schloss zur Verfü- gung hat.«
»Und wenn wir den Geist finden?«
»Vernichten wir ihn.«
»Dann muss ich mir ein… ein Amulett beschaffen, oder?«
Zamorra legte die Finger auf den Talisman, den er inzwischen mit einer neuen Kette ausgestattet und um den Hals gebunden hatte.
»Ich wünschte wirklich, es gäbe einige hundert von silbernen Amuletts. Aber das wird wohl ein Traum bleiben. Überlege, wie lange ich brauchte, um es zu entdecken. Es war in Château Montagne versteckt, wo mein Vorfahre Leonardo de Montagne es Ende des elften Jahrhunderts hinterlegte. Er hatte es von einem seiner Kreuzzüge mitgebracht.«
Sanchini wies nach vorn. »Rechts – du musst nach rechts auf die schmale Straße abbiegen. Seht ihr die Lichter dort unten? Das ist Vigliani. Der Friedhof liegt noch vor dem Dorf.«
Etwas später stellte Zamorra den Motor des Wagens vor dem schmiedeeisernen Friedhofstor ab. Sie stiegen aus und gingen die breiten Treppenstufen empor, die den Eingang bildeten. Das Tor musste geöffnet werden. Es quietschte in den Angeln, als Sanchini dagegen drückte.
Der Wind war wieder stärker geworden. Er drückte gegen die Zypressen, die sich unter seiner sanften Gewalt vor den hohen Friedhofsmauern bogen.
Es war ein typischer italienischer Landfriedhof, den sie betraten.
Zwischen den Gräbern gab es kleine Grünanlagen. Die Grabsteine, vorwiegend aus weißem Toskana-Marmor gefertigt, lagen dicht nebeneinander. Hinter schlichten Kreuzen und kleinen Madonnen-Standbildern leuchteten bescheidene elektrische Lichter. Im Hintergrund waren die Umrisse eines Mausoleums auszumachen. Auch dort funkelten mehrere kleine Lampen. Nicole zählte insgesamt zwanzig Lichter, die diesen Platz mit einem geheimnisvollen Schimmer belegten.
Sanchini schritt zielstrebig aus und blieb vor einem einfachen Grab
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