003 - Der Puppenmacher
heran. Als seine Fingerkuppe nur noch zwei Zentimeter von der Puppe entfernt war, fauchte sie plötzlich und bleckte ihre schwarzen Zähne. Noch ehe der Puppenmacher seinen Finger zurückziehen konnte, hatte ihn die Puppe gebissen. Der Mann gab einen unterdrückten Wutschrei von sich, schlenkerte die Hand und sog das Blut aus der Wunde. Dann hatte er sich wieder gefaßt und sagte mit lüsterner Stimme: »Du kleine Rebellin willst doch deinen Herrn und Meister nicht verärgern? Mir scheint, du kommst mit deinen Gedanken nicht von deinem ehemaligen Liebhaber los. Das muß sich ändern. Ich werde dich lehren, nur noch mich zu lieben.«
Die nackte Puppe erschauerte wieder. Ihre Augen wurden auf einmal von einem inneren Feuer erhellt, glitzerten wie zwei sprühende Diamanten. Ihre Arme begannen konvulsivisch zu zucken; es war, als habe ein anderer die Kontrolle über ihren Körper übernommen.
Sie breitete die Hände aus, riß sie nach hinten und stützte sich auf dem Boden auf. Dann spreizte sie die Beine. Ihr Körper hob und senkte sich, als würde ein Gewicht auf ihm lasten, von dem sie sich befreien wollte. Der Puppenmacher atmete schneller, während die Bewegungen des kleinen, nackten Puppenkörpers immer rhythmischer wurden; er paßte sich ihnen an, atmete im gleichen Rhythmus wie die Puppe. Und als sie plötzlich wild und in heftiger Abwehr fauchte, kam ein befreiendes Gurgeln aus seiner Kehle. Dann endlich sank die Puppe erschöpft zurück und blieb reglos liegen. Der Puppenmacher leckte sich über die Lippen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Lächelnd sagte er: »Du wirst noch lernen, mich zu lieben, meine leidenschaftliche Puppe.«
Zärtlich und behutsam streifte er ihr das Flitterkleidchen über den reglosen Körper, in der Überzeugung, ihren Widerstand ein für allemal gebrochen zu haben. Er glaubte nun ihr Herr und Meister zu sein und sie nach seinem Willen handeln lassen zu können, doch er irrte sich. Er hatte keine Ahnung von dem Feuer, das in ihrem kleinen Herzen loderte; das Feuer der Liebe zu ihrem Gefährten – und das Feuer des Hasses für den Puppenmacher.
Während Chapman die drei Stufen zum Eingang der Villa hinaufging und so heftig an der Türglocke zog, daß das Gebimmel bis zu ihnen herausdrang, blickte sich Dorian um. Der Park, durch den sie gekommen waren, wirkte verwahrlost. Auf dem Weg sproß zwischen dem Kies Unkraut hervor, das Laub vom Herbst lag noch herum, und die Ziersträucher waren verwildert. Die Villa selbst befand sich in einem ähnlichen Zustand. Obwohl in der Dunkelheit keine Einzelheiten zu erkennen waren und das Licht aus den Fenstern des Erdgeschoßes ihn blendete, entging ihm nicht, daß an vielen Stellen der Verputz abblätterte. Einst mochte die Villa ein imposanter Bau gewesen sein. Sie stammte aus der Jahrhundertwende und wies typische Merkmale des Jugendstils auf – eine Stilrichtung, die in England weniger gepflegt worden war als in vielen Ländern auf dem Kontinent. Jetzt aber war davon nicht mehr viel zu sehen. Zwar wies die Vorderfront noch die Schlangenlinie auf, und die Fenster zierten Verschnörkelungen mit Medusenhäuptern und anderen Masken, aber da der Großteil abgebröckelt war, benötigte man einige Phantasie, um die einstige Pracht des Bauwerkes zu erahnen.
Ungefähr eine Minute nachdem Chapman geläutet hatte, wurde die Tür von einem jungen Mann geöffnet. Er mochte so alt wie Dorian sein, und er war schlank, wirkte gepflegt und trug einen dunklen Abendanzug mit Fliege. In seinen Lackschuhen, die unter der Hose mit den hohen Stulpen hervorsahen, spiegelte sich das Licht eines Kristalllüsters. Als er die beiden Männer sah, runzelte er die Stirn.
»Wie sind Sie denn hier hereingekommen?« herrschte er die beiden an.
Chapman blieb ungerührt. »Die Gartenpforte war offen. Anscheinend hat Lady Hayward vergessen, sie abzuschließen, als sie das Anwesen verließ«, sagte er und beobachtete sein Gegenüber dabei scharf. »Im übrigen sind wir bei Lord Hayward angemeldet. Mein Name ist Donald Chapman – ich komme von Lloyds. Und das ist …«
»Dorian Holborn«, sagte Dorian, einer plötzlichen Eingebung folgend. Er fand, daß es nichts schaden konnte, wenn er einen falschen Namen nannte.
»Ich wußte gar nicht, daß Lord Hayward heute Besuch erwartet«, meinte der junge Mann und gab den Weg ins Haus widerstrebend frei.
»Es ist auch nicht anzunehmen, daß Lord Hayward seine Bediensteten in seine Privatangelegenheiten einweiht«,
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