003 - Der Totentanz
auch das nichts nutzte, hämmerte sie mit der Faust an die Tür.
»Pierre! Ich bin’s! Brigitte Dubois! Bitte, machen Sie doch auf. Ich weiß, dass Sie da sind.«
Schließlich waren Schritte zu hören, die sich langsam der Tür näherten. Dann war es still. Aber die Tür ging nicht auf.
Dennoch spürte Brigitte, dass jemand im Korridor stand.
»Pierre«, sagte sie, »ich weiß, dass Sie da sind. Seien Sie doch nicht albern und machen Sie mir auf! Wir machen uns allergrößte Sorgen um Sie. Sagen Sie mir wenigstens, ob Sie auch nicht krank sind.«
Endlich erhielt sie Antwort. Die Tür blieb jedoch geschlossen. Pierres Stimme klang sehr erschöpft und schwach.
»Ach, Sie sind’s, Brigitte … Was wollen Sie denn? Nein, ich bin nicht krank … Das heißt, ich fühle mich nicht recht wohl … In ein paar Tagen wird es wieder besser sein.«
Brigitte klopfte erneut an die Tür. »Aber warum machen Sie denn nicht auf? Das ist doch albern. Kann ich nicht etwas für Sie tun? Brauchen Sie etwas?«
»Nein, danke«, erwiderte die Stimme, in der jetzt ein Anflug von Ärger zu erkennen war. »Ich brauche nichts. Ich bin nicht so krank, dass ich nicht ausgehen könnte.«
»Es ist wegen Ihrer Frau, nicht wahr?« sagte Brigitte.
Einige Sekunden herrschte Stille hinter der Tür, dann erwiderte Pierre mit einer Stimme, die so feindselig war, wie Brigitte es noch nie an ihm erlebt hatte:
»Wegen meiner Frau? Was … was wollen Sie damit sagen?«
»Sie sind doch ganz krank vor Kummer. Die Einsamkeit macht Sie verrückt. Das merken wir doch. Bitte, lassen Sie mich herein.«
Die Treppenbeleuchtung erlosch plötzlich. Brigitte ging zum Lichtschalter hinüber und drückte darauf. Als sie zur Tür zurückkehrte, vernahm sie hinter ihr ein leises Rascheln von Stoff. Dann hörte sie die Stimme von Pierre leise sagen:
»Geh ins Wohnzimmer. Ich komme gleich.«
»Pierre?« rief Brigitte. »Sind Sie nicht allein?«
»Nein. Ich bin nicht allein. Eine Verwandte von mir ist da. Sie sehen also, ich brauche nichts. Sagen Sie dem Chef, dass ich ihm schreiben werde. Ich werde … ich werde einige Tage nicht kommen können. Aber nur einige Tage, dann bin ich wieder da. Auf Wiedersehen.« Dann fügte er hinzu: »Bitte, kommen Sie nicht wieder her.«
In den letzten Worten lag ein Ausdruck von großem Kummer. Pierres Stimme hatte gequält geklungen. Brigitte tat es in tiefster Seele weh. Sie hörte seine Schritte, die sich von der Tür entfernten.
»Pierre!« Sie machte noch einen letzten Versuch.
Dann sah sie ein, dass es keinen Zweck hatte. Ihr Unternehmen war fehlgeschlagen.
Noch einen Moment blieb sie vor der Tür stehen. Die Treppenbeleuchtung erlosch erneut. Brigitte drückte auf den Schalter, dann ging sie die Treppe hinunter. Das Rätsel um Pierre war jetzt nur noch größer geworden. Er, der gramgebeugte Witwer, war nicht allein. Sie erinnerte sich an das Gesicht, das sie am Tag zuvor hinter dem Fenster zu sehen geglaubt hatte. Eine Frau … War es möglich, dass der untröstliche Kollege sich eine Geliebte genommen hatte?
Das schien kaum denkbar. Indessen … warum hatte er ihr nicht einmal die Tür geöffnet? Warum hatte er gesagt, dass er eine Verwandte da habe? Was hatte das alles zu bedeuten?
Als Brigitte auf den Platz trat, ärgerte sie sich über Pierre Merlin. Sollte er doch tun, was er wollte. Sie würde sich jedenfalls hüten, sich noch weiter um ihn zu kümmern.
Gegen zehn Uhr abends am selben Tag hörten die Martins, die vor dem Fernsehapparat saßen, plötzlich Lärm im ersten Stock. Die Wände des Hauses waren sehr hellhörig. Oben erklangen Rufe und laute Stimmen.
»Nanu, was ist denn bei Merlin los?« sagte Claire und sah ihren Mann fragend an.
»Es hört sich an, als ob zwei sich streiten, oder?« sagte ihr Mann, ohne den Blick vom Fernsehapparat zu wenden.
Gleich darauf schien jemand eilig in den Hausflur zu laufen und die Treppe herunterzurennen. Dann hörten sie die Stimme ihres Nachbarn, der jemandem einen Befehl zu geben schien.
»Sollen wir nachsehen?« fragte die junge Frau.
Ihr Mann brummte, stand dann aber doch auf und ging zur Tür. Sonst war Merlin immer ruhig und solide. Was war nur los?
Als Martin im Korridor war, hörte er Merlin oben in gekränktem und bittendem Ton sagen: »Bitte komm zurück. Begreifst du denn nicht, dass man dich nicht sehen darf?«
Der Hausflur war dunkel, und Martin wagte nicht, Licht anzumachen. Er trat an die Treppe und blickte hinauf. Dort sah er eine
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