003 - Der Totentanz
dicht vor ihn hintrat.
»Was ist denn?« fragte Pierre tonlos. »Ich habe mir gleich gedacht, dass es Ihr Grab ist«, sagte der alte Marcheval. »Gestern früh habe ich es gemerkt, als ich meine Runde machte. Ich habe noch nichts unternehmen können, weil ich erst in den Unterlagen nachsehen musste, wem das Grab gehört. Ich bin noch nicht dazugekommen. Sie wissen ja, ich bin ganz allein hier. Wie gut, dass ich Sie gesehen habe! Sie haben sich recht erschreckt eben, nicht wahr? Es ist wirklich nicht zu glauben. Man denkt immer, es trifft nur die anderen, und dann ist man selbst dran.«
»Wie meinen Sie das?« sagte Pierre mit halberstickter Stimme.
»Na ja, das ist doch sehr ärgerlich. Ich werde jetzt die Polizei verständigen müssen. Das ist nun schon der zweite Fall. Wahrscheinlich ist hier ein Verrückter am Werk.«
»Die Polizei verständigen?«
Ein schwaches Lächeln erschien auf Pierres bleichem Gesicht. Er zuckte die Achseln. Dann wandte er sich unvermittelt um und ging mit großen Schritten davon.
»Halt! Warten Sie!« rief ihm der Wächter nach. »Wir müssen noch etwas besprechen. Wie soll ich denn …?«
Doch Pierre achtete nicht auf ihn. Er eilte dem Ausgang zu. Es begann zu regnen.
»Halt! So warten Sie doch!« rief der alte Mann hinter ihm her.
Der Wind trieb seine Worte davon.
Der Regen trommelte gegen die Fenster. Es war dunkel geworden. Pierre hatte sich einen Stuhl ans Fenster des Wohnzimmers gezogen und sah auf den stillen Platz hinaus.
Als er heimgekommen war, hatte er sich nicht einmal den Regenmantel ausgezogen. Unter seinem Stuhl hatte sich eine Pfütze gebildet, die inzwischen schon wieder getrocknet war.
Als Pierre vom Friedhof heimgekommen war, hatte er sich auf dem Stuhl am Fenster niedergelassen, ohne eigentlich zu wissen, warum. Nun wartete er. Sechs oder sieben Stunden saß er nun schon so da, ohne sich zu rühren, ohne etwas von seiner Umwelt wahrzunehmen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken.
Worauf wartete er eigentlich?
Manchmal donnerte es, und ein Blitz zuckte über den grauen Himmel. Die Straßenbeleuchtung war angegangen. Auch in den Auslagen der Geschäfte brannte Licht. Zwischen sechs und sieben Uhr hatte sich der Platz der Republik etwas belebt, doch bald lag er wieder verlassen da. Nur noch ab und zu eilte eine einsame Gestalt unter einem Regenschirm vorbei.
Bald war es völlig dunkel geworden. Pierre erhob sich von seinem Stuhl und knipste das Licht an. Dann wanderte er kurze Zeit in seiner einsamen Wohnung umher. Er ging in die Küche, holte einige Päckchen aus einem Schrank und legte sie auf den Tisch, doch weiter kam er nicht mit seinen Vorbereitungen für das Abendessen. Er hatte auch keinen Hunger.
Schließlich ließ er sich auf einen Küchenstuhl sinken.
Das Donnergrollen war der einzige Laut, der die ungemütliche Küche erfüllte. Als Pierre Merlin wieder einigermaßen zur Vernunft gekommen war, versuchte er eine Erklärung für die Vorgänge zu finden – eine vernünftige Erklärung. Wahrscheinlich war Bornimus der Urheber der Veränderungen an Christines Grab gewesen. Er war auch vermutlich in der vergangenen Nacht im Haus gewesen, um ihm Angst einzujagen. Er hatte den Ring hinterlassen, damit das einfältige Opfer seines Betruges annahm, er habe wirklich die versprochenen Dienste geleistet.
Aber eine solche Täuschung konnte er ja nicht bis in alle Ewigkeit fortführen. Das war doch sinnlos.
Diese Gedanken gab ihm die Stimme der Vernunft ein. Sie wurde aber immer wieder übertönt von anderen Überlegungen. Die Ängste, die Pierre erfüllten, gewannen die Oberhand, und seine Finger schlossen sich zitternd um den Ring, den er in der Tasche seines Regenmantels trug.
Heute war der 17. November. Christines Todestag. Wenn sie zu ihm zurückkommen würde, so geschah das gewiss an diesem Tag und keinem anderen.
Wieder dröhnte ein Donnerschlag. Das Haus erzitterte, und das Küchenfenster, das zweifellos nicht richtig geschlossen war, flog auf. Regen strömte herein. Pierre überlief ein Schauer in der nassen, kalten Luft. Schnell schloss er das Fenster. Während sein Blick achtlos über den Platz schweifte, fiel ihm eine Gestalt in der Nähe seines Hauses auf. Er beugte sich vor, um besser sehen zu können, aber die grauen Regenschleier nahmen ihm die Sicht.
Als er wieder in das Zimmer sah, bemerkte er auf den nassen Fliesen des Fußbodens ein zuckendes bläuliches Feuer, in dem sich sein schwarzer Schatten klar abzeichnete. Das Licht
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