003 - Der Totentanz
Gestalt, die nur schwach von einem Lichtschein erhellt wurde, der aus der Wohnung von Merlin fiel.
Martin hüstelte, um sich bemerkbar zu machen. Im ersten Stock hörte er einen halbunterdrückten Laut der Bestürzung.
»Ist was nicht in Ordnung, Herr Merlin?« fragte der junge Arbeiter zögernd.
Er hörte Schritte über sich, dann fiel die Merlinsche Wohnungstür zu. Gleich darauf tauchte Merlins Gesicht über dem Treppengeländer auf.
»Nein, es ist alles in Ordnung«, sagte Merlin. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe.«
Das Gesicht verschwand. Gleich darauf hörte Martin Schlüssel, die sich im Schloss drehten. Die Tür im ersten Stock ging auf und wieder zu. Martin zuckte die Achseln und kehrte in seine Wohnung zurück.
Dieser Merlin hat sich wirklich sehr verändert, dachte er.
Auch am nächsten Morgen war es recht kühl. Eine einförmig graue Wolkendecke hing tief am Himmel, und es regnete wieder. In der Nacht hatte es Frost gegeben, und unter den Füßen des Friedhofswächters knirschte das Eis auf den Pfützen.
Der alte Marcheval schritt rüstig aus, die Hände in den Taschen und die Pfeife zwischen die Zähne geklemmt. So wanderte er in einer Wolke von aromatischem Tabakduft dahin, die der Wind ihm ins Gesicht trieb. Sein Dienst hatte gerade begonnen. Es war sieben Uhr morgens.
Er stand gern früh auf. Es war schön, durch die leeren Alleen des Friedhofs zu gehen, wenn die Tore noch geschlossen waren und er alleiniger Herrscher in seinem Reich war. Nachdem jetzt schon zwei Gräber beschädigt worden waren, konnte es nichts schaden, auf alles ein wachsames Auge zu haben.
Als er auf einen Nebenweg einbog, verfinsterten sich seine Züge plötzlich, und er biss fester auf die Pfeife. Er trat näher zu der Stelle, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Die flach auf dem Boden liegende Marmorplatte eines Grabes war beiseite geschoben, und darunter klaffte ein tiefes Loch im Boden.
»Unglaublich!« sagte der Wärter empört.
Es war nämlich nicht irgendein anderes Grab, sondern dasselbe, das schon wenige Tage zuvor beschädigt und inzwischen wiederhergestellt worden war. Es gehörte dem seltsamen Mann mit dem wiegenden Gang, der in wilder Flucht davon gestürzt war, als Marechal mit ihm wegen des beschädigten Grabes hatte sprechen wollen.
»Na, wo willst du denn hin, Kleiner?«
Der dicke Mann mit dem grauen Schnurrbart und der Brille bückte sich zu dem kleinen Jungen hinab, der zögernd am Straßenrand stand. Das Kind sah ihn mit ausdruckslosen Augen an, in denen keinerlei kindliche Lebhaftigkeit zu lesen war.
Der Mann bemerkte, dass der arme Junge nur mit Fetzen bekleidet war, an denen Erde klebte. Das Kind schien halb erstarrt vor Kälte.
So ein armes Kerlchen, dachte der Mann. Anscheinend schicken ihn die Eltern zum Betteln auf die Straße. Voller Mitgefühl sah er den Kleinen an. ‚Dabei rümpfte er unwillkürlich die Nase. Von dem Jungen ging ein starker Modergeruch aus. Wo schlief das arme Kind bloß, dass es einen solchen Geruch angenommen hatte?
»Wo wohnst du denn?« fragte der Mann.
Doch statt einer Antwort sah ihn der Junge nur mit starren, stumpfen Augen an.
»Willst du über die Straße?«
Der Mann nahm das Kind an der Hand und führte es auf die andere Straßenseite.
»Na, sagst du nicht danke schön?« ermahnte der Mann den Jungen freundlich.
Doch der Kleine hatte sich schon abgewandt und trabte mit seinen kleinen, mageren Beinen davon, die durch die zerrissenen Hosen hindurch zu sehen waren.
Die Kinder haben heutzutage wirklich keine Manieren mehr, dachte der dicke Mann bekümmert. Er rieb seine Hände gegeneinander, um sie zu erwärmen. Was der Junge für kalte Hände gehabt hatte!
Anscheinend stand die Tür der Merlins offen, denn als André Martin aus der Fabrik nach Hause kam und gerade seine Wohnungstür aufschließen wollte, hörte er vom ersten Stock her ein Schluchzen. Der Schmerz, der in diesen Tönen lag, ließ ihn unwillkürlich erschauern. Den Schlüsselbund in der Hand, stand er regungslos da und lauschte.
»Antoine!« sagte oben eine Stimme, »mein kleiner Antoine!«
Dann fiel eine Tür zu, und alles war still.
»Seltsam, wirklich seltsam«, bemerkte der Metzger. »Dann kann er doch gar nicht so unglücklich sein, wenn er jemand bei sich hat. Ja, wirklich, eine Frau. Na ja warum auch nicht. In seinem Alter kann man doch noch mal heiraten, dagegen ist nichts zu sagen.«
»Glauben Sie tatsächlich, dass er Besuch
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