003 - Der Totentanz
der Republik erreicht. Gleich war er zu Hause. Das Lokal an der Ecke war noch offen. Einige alte Männer standen an der Theke. Für die jüngeren Gäste war es noch zu früh. Alle anderen Geschäfte waren schon zu. Wenn Pierre gegen acht Uhr heimkam, war gewöhnlich die Bäckerei der Witwe Cointrin noch offen und auch der Lebensmittelladen daneben, manchmal auch die Drogerie.
Doch heute kam er eine halbe Stunde später als sonst, und alle Läden waren geschlossen. Der Platz wirkte leer und trübselig. Die Häuser, die ihn umstanden, hatten nur zwei Stockwerke. Hier und da sah man hinter den dunklen Fenstern das milchig blaue Licht eines Fernsehapparates.
Pierre wandte sich nach rechts. Alles war still, nur der wie eine Brandung rauschende Verkehrslärm drang an sein Ohr. Jetzt betrat Pierre das Haus Nummer 22. Ein düsterer Korridor nahm ihn auf. Links befand sich die Wohnungstür der Martins. Es waren jung verheiratete Leute. Er war Arbeiter, sie Kellnerin in einem Schnellrestaurant im Zentrum.
Hinten gab es eine Glastür, die auf einen kleinen Hof von ein paar Quadratmetern führte, der sogar ein Stück Rasen aufwies. Dort konnte man sich im Sommer sogar sonnen.
Rechts führte eine Treppe zu Merlins Wohnung hinauf. Er und die Martins bewohnten das Haus allein. Über seiner Wohnung befand sich ein Stockwerk mit einzelnen Zimmern, die früher an die Angestellten einer Wäscherei vermietet waren. Jetzt wurden sie nur noch als Abstellkammern benutzt.
Als Pierre das Haus betrat, drückte er auf den Schalter für die automatische Treppenbeleuchtung. Der Hausflur wurde in mattes gelbes Licht getaucht. Pierre stieg die Treppe hinauf. Die Stufen knarrten unter seinem Gewicht. Dann öffnete er seine Wohnungstür, machte im Korridor Licht, schloss die Tür hinter sich und hing seinen Mantel an die Garderobe … eine Folge von Handlungen, die er jeden Tag mit gleichförmigen Gesten wie ein Roboter erledigte.
Die Wände der Küche waren gelb gestrichen. Die Kochecke war mit Plastikfliesen in Gelb und Blau ausgestattet, die dem Raum eine heitere Note verliehen. Pierre stand ratlos mit hängenden Armen da und wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Seine Jacke war ein wenig zerknittert, die Hose schlotterte ihm um den Leib.
Kein Laut war im Haus zu hören. Alles war still … wie immer, seit …
Pierre riss sich zusammen, ging zum Schrank und öffnete ihn. Etwas essen musste er trotz allem. Mittags nahm er seine Mahlzeiten in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Büros ein.
Abends bereitete er sich zu Hause eine Kleinigkeit zu.
Aber heute Abend hatte er keinen Hunger. Die Begegnung mit dem Landstreicher ging ihm nicht aus dem Kopf. Immer wieder musste er an ihn denken, ob er wollte oder nicht. Auch ärgerte es ihn, dass er wegen des Alten eine halbe Stunde verloren hatte. Zwar wusste er ohnehin nichts mit seiner Zeit anzufangen, aber war er war schon so in seinen Gewohnheiten erstarrt, dass ihn jede Veränderung unangenehm berührte.
Er schlug zwei Eier in eine Pfanne, ließ sie zu braun werden, aß sie ohne Appetit und trank dazu etwas Rotwein. Dabei saß er am Küchentisch, auf dem eine grüngelb karierte Wachstuchdecke lag. Dann biss er in einen Apfel, aß ihn aber nicht auf, sondern verließ die Küche und ging ins Schlafzimmer.
Er war voller Unruhe. Es war nicht allein die Einsamkeit, die ihm zusetzte – an die hatte er sich inzwischen schon gewöhnt – sondern die Gedanken, die mit dem alten Mann zusammenhingen.
Er ging zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. Der Platz lag verlassen da. Sechs Straßenlampen warfen ihr gelbliches Licht auf die am Straßenrand parkenden Autos.
Er wandte sich vom Fenster ab und legte den nur halb gegessenen Apfel in einen Aschenbecher. Dann begann er sich auszuziehen. Sorgsam faltete er seine Sachen zusammen und legte sie über einen Stuhl.
Er ließ sich in das große Doppelbett sinken, das für ihn allein zu groß war. Dasselbe galt für die ganze Wohnung.
Pierre und Christine hatten sie zwei Jahre nach ihrer Heirat bezogen, nachdem sie mit einer anderen im Zentrum schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Für ihre stillen Naturen war der Straßenlärm dort unerträglich gewesen. Der kleine Platz am Stadtrand war ihnen wie eine Insel des Friedens erschienen. Die Wohnung bestand aus vier Zimmern.
Jetzt bewohnte Pierre nur noch die Küche und das Schlafzimmer. Das Esszimmer benutzte er kaum noch, außer im Sommer. Dann las er dort manchmal die Zeitung oder hörte
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