0034 - Dracula gibt sich die Ehre
Alptraum zu erleben. Sie hatte ähnliche Geschöpfe schon gesehen, aber nicht in Wirklichkeit, sondern auf der Leinwand.
Auch jetzt kam ihr alles wie ein Film vor, obwohl sich bei ihr langsam die Erkenntnis herauskristallisierte, daß sie hier keinen Film erlebte, sondern der nackten, brutalen Realität gegenüberstand.
Und das machte die Sache so schlimm. Die beiden Vampire schüttelten sich die Scherben von der Kleidung. Normalerweise hätten ihre Körper Wunden zeigen müssen, vor allen Dingen die Faust, mit der Vampir Nummer eins die Scheibe durchschlagen hatte. Aber dem war nicht so.
Die Vampire zeigten nicht die geringsten Verletzungen. Sie waren in der Tat Geschöpfe der Hölle.
Die Blicke des Mädchens irrten hin und her. Obwohl sie es gar nicht bewußt steuerte, suchte sie nach einem Fluchtweg. Sie dachte aber auch an das Baby, an den kleinen John, der hilflos in seinem Bettchen lag und schlief. Polly stöhnte auf.
Mit hölzern wirkenden Bewegungen setzten sich die Untoten in Bewegung. Sie schritten auf Polly zu, teilten sich aber dann, so daß Polly es nur noch mit einem Gegner zu tun hatte. Der andere ging in Richtung Tür. Er wollte den Livingroom verlassen.
Polly schrie auf. »Wo willst du hin?« Sie dachte an den kleinen wehrlosen Johnny.
Der Vampir blieb auf der Schwelle stehen und schaute sich um. Dann zischte er seinem Begleiter etwas zu, und dieser nickte zweimal, um sich anschließend dem Kindermädchen zuzuwenden.
Polly konnte selbst nicht begreifen, daß sie diesen Schrecken überwunden hatte und sogar bereit war, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Sie hatte ihr Herz an den kleinen John verloren, und wenn ihm etwas passierte und sie noch Schuld daran war, dann…
»Bleiben Sie stehen!« schrie sie mit überkippender Stimme.
»Sie sollen…«
Da griff der zweite Vampir ein. Mit einem Tritt fegte er den vor dem Sessel stehenden Hocker zur Seite, so daß er freie Bahn hatte. Seine Arme schnellten vor, wollten Polly packen. Doch dem Kindermädchen gelang es, mit einer hastigen Drehung unter den zupackenden Händen wegzutauchen, zur Seite zu springen und mit einem Satz hinter den Sessel zu gelangen.
Blitzschnell packte Polly die Lehne und kippte den Sessel nach vorn.
Der Vampir war nicht so wendig. Die Lehne traf ihn in Bauchhöhe, und das Gewicht des Möbelstücks drückte den Untoten nach hinten.
Polly hatte freie Bahn.
Mit langen Schritten hetzte sie durch den großen Livingroom, stürmte durch die Tür. Anstatt zu fliehen und sich selbst in Sicherheit zu bringen, jagte sie die Treppe nach oben, wo die Schlafzimmer lagen.
Der Bungalow war einstöckig gebaut, zusätzlich noch in U-Form und etwas verwinkelt. Die Conollys besaßen viel Platz, unter anderem auch mehrere Gästezimmer.
Die Holztreppe mit den breiten Stufen dröhnte unter Pollys Schritten, als sie nach oben hetzte.
Die Angst trieb sie voran. Die Angst um sich und den hilflosen John.
Und da hörte sie das Kind schreien.
Es war ein verzweifeltes Wimmern, das ihr durch Mark und Bein schnitt. Tränen schossen in Pollys Augen.
»Lieber Gott, hilf mir«, flüsterte sie. »Laß es nicht geschehen!« Ihr fielen im Moment keine anderen Worte ein, und gebetet hatte sie auch schon lange nicht mehr, aber jetzt in der Stunde der Not bittete sie um den Beistand ihres Schöpfers. Der Gang lag vor ihr. Die zweite Tür stand offen. Und dort schlief John Conolly.
Ungeachtet ihrer Angst stürzte Polly in das Zimmer und sah ein grausames Bild.
Der Untote hatte sich über das Kinderbett gebeugt. Er drehte Polly sein Gesicht zu, während seine Arme soeben aus dem Bett auftauchten und ein schreiendes, zappelndes Bündel in den Händen hielten. Johnny Conolly!
Polly glaubte, ihr Herz müsse stehenbleiben. Der Untote hatte es tatsächlich gewagt und sich an dem Kind… »Nein!« keuchte sie. »Nein und nein…« Sie schüttelte wild den Kopf und brüllte die letzten Worte hinaus. Ungeachtet der Gefahr wollte sie sich auf den Blutsauger stürzen, doch da umklammerte ein zangenharter Griff ihre rechte Schulter und riß sie herum.
Polly flog mit dem Rücken gegen den Türholm. Weit riß sie die Augen auf und sah den Vampir aus dem Livingroom dicht vor sich. Er hatte die Zähne gebleckt, deutlich waren die beiden spitzen Hauer zu erkennen, die das Markenzeichen der Blutsauger waren.
Der Untote war ihr gefolgt, und Polly hatte es nicht bemerkt. Und jetzt griff er sie an. Er wollte Blut – ihr Blut! Polly warf sich nach links, in den Gang hinein.
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