004 - Die Ausgestoßenen
einem Speer oder Schwert in der Hand hätte sich Bork dem Grauhaar entgegengestellt. Der Tod dieser Bestie ließ die Überlebenschancen seiner Sippe sicherlich in die Höhe schnellen.
Doch Bork war ungeübt im Kampf. Er hatte nie eine Waffe besessen, und selbst wenn ihm nun plötzlich eine zur Verfügung stünde, hätte er nicht gewusst, wie er sie benutzen sollte. Seine Waffe war stets der Geist gewesen, doch der nützte ihm bei diesen Kreaturen wenig.
So blieb ihm nur noch, sich umzuwenden und das Weite zu suchen. Behende krabbelte er aus dem Versteck und hangelte sich durch einige intakte Skelette, bevor er den Körper des Zehnfüßlers erreichte, der wie ein Tunnel durch ein Meer von zerquetschten Käferkadavern führte. Vorsichtig schwang er sich in den hohlen Leib des Wurms. Drinnen tastete er sich zwischen den Rippen des Tieres entlang - ohne zu ahnen, dass daran einst Sitzbänke befestigt waren, auf denen die Fahrgäste eines Linienbusses gesessen hatten.
Bork hatte noch nie etwas über die Zeit vor der großen Katastrophe gehört, deshalb ahnte er auch nichts vom technischen Ursprung der Fahrzeugwracks, durch die er sich bewegte. Er kannte nur die überdimensionalen Insekten wie Andronen oder Frekkeuscher, die diesen Landstrich bevölkerten. Da schien es ihm nur folgerichtig, dass es sich bei dieser Anhäufung von leeren Hüllen um die Chitinpanzer ähnlicher Wesen handeln musste. Dass er und seine Sippe auf einem Schrottplatz waren, ahnte er nicht.
Bork kletterte gerade durch den offenen Rahmen der Windschutzscheibe hinaus, als er von vorne die entsetzten Schreie seiner Schwestern hörte. Gleich darauf erklang ein vielstimmiger Chor triumphierender Affenmenschen.
Die tumben Kreaturen hatten sie in eine Falle gejagt!
Verfluchtes Grauhaar, daran bist du alleine schuld!
Die Angst um seine Frau spornte Bork zu schnelleren Bewegungen an.
Hastig kletterte er durch die letzten Autowracks, bevor er endlich das Freie erreichte. Von der grellen Nachmittagssonne geblendet, musste er einige Male blinzeln, bevor er seine beiden Schwestern sah, die sich nur einen Steinwurf entfernt an ihre Männer klammerten.
Die Sippe befand sich inmitten eines Ganges, der zwischen zwei hohe Bergen aus aufgetürmten Schrottautos hindurchführte. Auf den Dächern der oberen Fahrzeugschicht sprang ein halbes Dutzend Affenmenschen herum und schlug sich drohend auf den Brustkorb.
Hinter Bork erklang ebenfalls triumphierendes Gegrunze, denn der Grauhaarige und seine Horde kamen rasch näher.
»Schnell, wir müssen hier hinauf!« schrie Zila, die als Einzige nicht vor Angst erstarrt war. Dabei deutete sie auf einen Turm aus Autokarosserien, der weit über den übrigen Schrottplatz hinausragte. Die verängstigte Sippe starrte unentschlossen in die Höhe.
»Nun macht schon!« brüllte Bork seine Schwestern an, während er auf sie zu rannte.
»Folgt Zila, das ist unsere einzige Chance!«
Der Befehl ihres Sippenoberhauptes löste die Erstarrung. Gehorsam machten sich die beiden Pärchen mit ihren Kindern daran, Zila zum Fuß des Turms zu folgen.
***
Die Scimaro merkten rasch, dass ihre Opfer entkommen wollten. Aufgeregt sprangen sie auf den Autodächern umher. Einige von ihnen zerfetzten die maroden Karosserien, um scharfkantige Bruchstücke in die Tiefe zu werfen.
Bork erkannte, dass er irgend etwas tun musste, um seiner Familie mehr Zeit zu verschaffen. Aus einem plötzlichen Geistesblitz heraus begann er wie die Affenmenschen zu grunzen und sich ebenfalls auf die Brust zu schlagen!
Verwirrt hielten die Neandertaler in ihren Bewegungen inne. Bisher hatten sie die Ausgestoßenen nur als Opfer erlebt, die sich keiner äußeren Gewalt hingaben. Nun schien einer von ihnen eine Herausforderung ausstoßen zu wollen!
Bork nutzte die Irritation, um zu seiner Familie aufzuschließen. Doch kaum hatte er die Reihen der Affenmenschen passiert, schlug ihre Überraschung in Raserei um. Wütend stießen sie ganze Wracks in die Tiefe. Einige Neandertaler sprangen Bork hinterher, um ihn mit bloßen Händen zu zerreißen.
Die Angst beflügelte seine Schritte, doch die flinken Affenmenschen holten so schnell auf, dass er es unmöglich bis zum Fuß des Turms schaffen konnte. Er spürte bereits den heißen Atem eines Verfolgers im Nacken, als einer der Schrottberge unter dem Toben der Halbaffen ins Rutschen kam. Kreischend lösten sich einige tiefer gelegene Wracks aus der aufgetürmten Wand, dann brach der ganze Berg krachend in sich zusammen.
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