004 - Geister im Moor
allerdings schade, das nicht ‚besseres Wetter ist. Sie könnten sonst von hier aus schon den Ort am Berghang sehen, direkt über dem kleinen Fischerhafen, zu dem die untere Strasse führt, von der wir gerade abgebogen sind. Guilclan ist ein Adlernest aus düsteren Steinen. Ein Haus lehnt sich an das andere. Bei klarer Sicht hat man von dort oben einen wunderbaren Blick über das Meer, die Inseln und die Berge. Vielleicht wirkt Guilclan um diese Jahreszeit etwas zu düster, aber ich liebe es.«
Sie hatte mit verhaltener Leidenschaft gesprochen, aber danach schwieg sie. Der Weg wurde auch immer schlechter, und sie musste sich mehr auf das Fahren konzentrieren. Ich hing meinen eigenen Gedanken nach. Vor zwanzig Minuten hatte ich diese bezaubernde junge Frau noch nicht gekannt. Das Leben besteht aus langen, eintönigen Strecken, die gelegentlich von jähen Begegnungen unterbrochen werden, die meistens kein Morgen haben. Natürlich hatte ich einige Abenteuer gehabt, aber keines hatte tiefere Spuren hinterlassen. Mein Herz war immer frei geblieben. Ein leichtes, köstliches Parfüm ging von meiner Nachbarin aus, und ich überließ mich meinen goldenen Träumen …
Der Nebel hüllte uns ein wie ein Mantel und isolierte uns von der übrigen Welt. Ah, wenn ich gewusst hätte, was mir bevorstand – was uns bevorstand!
Wir bogen scharf um eine Kurve, und die Reifen des Wagens knirschten. Nun folgte eine Kurve der anderen, alle fünfzig bis hundert Meter. Man konnte kaum ein paar Meter weit blicken, aber ich ahnte die Felsen und immer steileren Abgründe. Das Mädchen fuhr mit äußerster Vorsicht, und das war gut.
Unvermittelt brach sie das lange Schweigen: »Sind Sie nicht Jack Deans?«
Ich fuhr zusammen. »Sie kennen mich?«
Sie lachte fröhlich. »Nein, ich sehe Sie heute zum ersten Mal. Aber letzte Woche war in einer Zeitschrift ein Bild von Ihnen – neben der Kritik Ihres letzten Buches, Die gläserne Hand.«
Warum war ich nicht gleich darauf gekommen? Ich war es eben nicht gewöhnt, auf diese Weise erkannt zu werden. Jetzt lachte auch ich. »Sie haben ein gutes Gedächtnis für Gesichter.«
»Eigentlich nicht«, meinte sie. »Aber ich hatte erst einige Tage zuvor Ihr Buch gelesen, deshalb habe ich mir das Photo genau angesehen.«
»Nun, und entspreche ich der Vorstellung, die Sie sich beim Lesen meines Romans von mir gemacht haben?«
»Doch, ja.«
Das wunderte mich nicht sonderlich. Angeblich habe ich nämlich ein »tragisches« Gesicht – mit ernsten Augen, starken Kiefern, hohen Backenknochen, ziemlich schmalen Lippen und einer dunklen Haarmähne. Kurz, ein Gesicht, wie es sich für einen Erzähler phantastischer Geschichten geziemt.
»Und was halten Sie von meinem Buch?« fragte ich in möglichst gleichgültigem Ton. Ich bin nicht unbedingt eitel, aber in diesem Fall wünschte ich mir mit aller Kraft, dass es ihr gefallen hatte. Die Bewunderung einer Frau für einen Mann ist oft Vorbote zarterer Gefühle.
»Sagen wir lieber, von all Ihren Büchern, denn ich habe sie alle gelesen«, erwiderte sie sachlich. »Ich mag diese Art von Literatur. Sie passt zu der Umgebung, in der ich lebe. Ihre Romane haben mich interessiert, aber ich finde, es fehlt ihnen manchmal etwas an Wahrscheinlichkeit. Gewiss, das ist nur ein kleines Manko in solchen Erzählungen. Ich werfe Ihnen viel mehr vor, nicht genügend in gewisse verborgene Realitäten einzudringen. Sie verlassen sich zu viel oder fast allein auf Ihre Phantasie.«
Ich war bestürzt, denn sie hatte den Finger genau auf die Wunde gelegt. Was sie sagte, hatte noch kein Kritiker über meine Bücher gesagt, aber es stimmte genau, das wusste ich. Wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich war, hatte ich es mir oft vorgeworfen. Dass dieses junge Mädchen es bemerkt hatte, kränkte mich jedoch ein wenig.
»Sie haben sicher recht«, erwiderte ich, ohne es zu wollen, etwas spitz.
Sie lächelte. »Ärgern Sie sich nicht«, sagte sie. »Ich habe nun mal die Gewohnheit, immer zu sagen, was ich denke. Und deshalb möchte ich jetzt hinzufügen, dass Ihre Romane trotzdem zu den besten gehören, die ich in dieser Sparte gelesen habe. Und ich habe viele gelesen, an all den langen Winterabenden. Ihre Gläserne Hand ist Ihr bisher bestes Buch.«
Das war natürlich Balsam auf meine Wunde. »Leben Sie den Winter über hier?« fragte ich, um das Thema zu wechseln.
»Ja. Ich lebe das ganze Jahr hier. Und wenn ich mich nicht irre, sind Sie hergekommen, um an einem neuen Buch zu
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