0042 - Herr der wilden Wasser
ungewöhnlich stark verlangsamte Atem verriet die Tiefe der Trance.
»Ich höre nichts«, murmelte sie. »Ich kann keinen Ruf mehr hören. Nichts…«
»Sie müssen, Rebecca! Versuchen Sie es!«
Das bleiche Gesicht des Mediums spannte sich. »Nein«, flüsterte sie. »Nein… Ich bin angekommen. Aber dort ist kein Ruf mehr. Ich kann nichts mehr hören. – Alles ist wie tot. – Tot …«
Zamorra spürte, wie sich seine Kopfhaut zusammenzog. Er starrte Rebecca an. Und er ahnte, was ihre Worte bedeuten mussten.
»Können Sie etwas sehen?«, fragte er mit erzwungener Ruhe.
»Ich sehe – eine Höhle. Da ist Blut… viel Blut. Ich spüre einen Sog, aber da ist kein Ruf mehr, nichts Menschliches.« Ein scharfer Atemzug kam über ihre Lippen, und tief auf dem Grund ihrer Pupillenschächte schien ein seltsames Feuer zu brennen. »Ich sehe die Vergangenheit«, flüsterte sie. »Ich sehe den Alten vom Meer, der das Tor der Zeit zerbricht und dem Grauen den Weg bahnt. – Da ist keine Schranke mehr zwischen gestern und heute. – In unvorstellbare Zeit wandert mein Geist. – Fort … Weit fort …«
»Rebecca! Rebecca!« Zamorras Stimme klang eindringlich, beschwörend. Mit tiefem Schrecken spürte er, wie ihm das Medium zu entgleiten drohte. Noch einmal rief er ihren Namen, und dabei presste er ihr mit einer raschen Bewegung das Amulett auf die Stirn.
Sie bäumte sich auf.
Jäh öffnete sich ihr Mund, brach ein gellender Schrei über ihre Lippen.
Erschöpft fiel sie zurück, am ganzen Körper zitternd – aber jetzt ging ihr Atem wieder tiefer und rascher, und ihre Augen schlossen sich.
Zamorra wusste, dass ihr Geist zurückgekehrt war von jener unheimlichen Wanderschaft. In letzter Sekunde…
Ganz deutlich hatte er die Kraft des Sogs gespürt, jenen jähen Absturz ins Ungewisse, den er nicht erwartet hatte und auch jetzt noch nicht voll begriff. Der Alte vom Meer, klang es in ihm nach. Das Tor der Zeit zerbrochen, keine Schranke mehr zwischen dem Heute und Gestern! Mit zusammengepressten Lippen hängte er sich das Amulett wieder um den Hals, schloss die Knöpfe seines Hemdes und sah von einem zum anderen.
»Himmel«, flüsterte Lecourbé. »Das wäre beinahe schief gegangen. Was, um alles in der Welt, mag es bedeuten?«
Zamorra atmete tief durch.
Auch ihm merkte man jetzt die ungeheure geistige Anstrengung an. Aber er war sich darüber klar, dass er sich keine Ruhe gönnen durfte.
»Wir werden es wissen, wenn wir Charles Maruth gefunden haben«, sagte er. »Wir müssen ihn suchen…«
***
Der Ton des Motors veränderte sich. Zweimal stotterte er noch kurz, dann blieb er ganz weg. Der Wagen rollte aus und kam am Rand der schmalen, von Schlaglöchern übersäten Piste zum Stehen.
Will Sullivan fluchte.
Er war knapp vierzig Jahre alt, aber zuviel Nikotin und Alkohol und zu wenig Bewegung hatten ihm bereits Herzbeschwerden, erhöhten Blutdruck und eine jämmerliche Kondition eingebracht. Unter dem Parka wölbte sich ein ausgeprägter Bauch, schütteres blondes Haar umgab kranzförmig eine spiegelnde Glatze. Sein Gesicht war glatt, feist und stets leicht gerötet. Wütend hantierte er mit dem Zündschlüssel herum, ließ den Anlasser des alten Wagens orgeln – aber der Motor war beim besten Willen nicht mehr in Gang zu bekommen.
Ein Blick auf die Benzinuhr zeigte ihm den Grund. Stur und unverrückbar stand der Zeiger auf Null. Will Sullivan stieß die Tür auf, stieg aus und fluchte bei dem Gedanken, dass er mit einem verschmierten, stinkenden Kanister hantieren musste.
Zwei Minuten später fluchte er noch mehr – nämlich als er den Kanister schüttelte und feststellte, dass sich nicht einmal ein Tropfen Benzin darin befand.
Will Sullivan schnaubte durch die Nase.
Seine kleinen, wasserhellen Augen glitten über die grandiose Felsenlandschaft. Wenn seine Karte nicht log, gab es weit und breit weder eine Ansiedlung noch eine Tankstelle. Empörung färbte sein Gesicht. Wie er je hatte auf den Gedanken kommen können, ausgerechnet auf dieser dreimal Verdammten Insel Urlaub zu machen, begriff er jetzt selbst nicht mehr. Es war eine snobistische Anwandlung gewesen, nichts weiter – aber darüber legte er sich keine Rechenschaft ab. Ebenso wenig wie über die Tatsache, dass er das Benzin aus dem Kanister vor ein paar Tagen bei einer ähnlichen Gelegenheit eigenhändig in den Tank geschüttet – und dass er nicht auf den Wirt seiner Pension gehört hatte, als der ihn ausdrücklich vor einer
Weitere Kostenlose Bücher