0046 - Das Haus der Verfluchten
betroffen.«
»Ich weiß es noch nicht, ich muss erst einmal die nächste Nacht abwarten. Aber ich verstehe nicht, wieso jemand geschlagen werden kann, wenn er in der heutigen Zeit lebt und das Schloss – ich meine die Erscheinungen doch in der Vergangenheit sind.«
»Das ist die Wirkung des Fluches«, erklärte Zamorra, »das Schloss wird bei Anwesenheit eines Familienmitgliedes für eine Stunde in die Vergangenheit versetzt. Wenn das Urteil über das Familienmitglied gesprochen ist, wird es vollstreckt. Mademoiselle Lucille wäre heute Nacht eben beinahe in der Vergangenheit zu Tode geschlagen worden. Anschließend – nach Ablauf dieser Stunde – fällt das Schloss und der betreffende Familienangehörige wieder in die Gegenwart zurück.«
»Ich verstehe Ihre Erklärung, Herr Professor, aber begreifen kann ich das nicht«, sagte Madame Dubois.
Dann stand sie entschlossen auf und räumte das Geschirr fort.
»Was unternehmen wir?«, wollte Nicole Duval wissen.
»Ausruhen«, empfahl Zamorra, »geh’ etwas spazieren. Fahr nach Seissan, aber nimm dir nicht zuviel vor. Heute Nacht werden wir unsere Kräfte brauchen.«
»Und was machst du?«
»Ich habe eine Idee, die ich entwickeln muss. Hoffentlich klappt es. Wenn nicht, müssen wir zurück nach Château Montagne. Ich benötige dann einige Unterlagen aus meiner Bibliothek. Aber vielleicht geht es auch so, das werden wir heute Nacht merken.«
Sie trennten sich, und Nicole Duval versprach, immer in Lucilles Nähe zu bleiben.
Erst am späten Nachmittag trafen sie sich wieder und besichtigten gemeinsam das Schloss. Sie durchstöberten jeden Winkel.
Auch der Professor wollte sich alles genau einprägen und merkte jetzt, dass er am Vortag noch lange nicht alles gesehen hatte.
Merkwürdig war, dass in den Kellern einige Gänge blind zu enden schienen. Massive Felsen machten ein Fortkommen unmöglich.
»Es ist eigentlich unwahrscheinlich, dass nicht das ganze Schloss unterkellert sein soll«, sagte Zamorra. »Vielleicht hat das etwas mit der ganzen Angelegenheit zu tun.«
»Und wo ist die Kapelle?«, fragte Nicole, »jedes Schloss hat doch eine Kapelle. Hier ist nichts zu finden.«
»Tatsächlich, daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, sagte Zamorra nachdenklich. »Es weist auch kein Raum darauf hin, dass er früher einmal diesem Zweck gedient hat.«
»Suchen wir noch mal«, sagte Lucille, »wenn Sie glauben, dass das wichtig ist, müssen wir uns weiterhin umsehen.«
Sie fanden aber nichts. Es war nicht der kleinste Hinweis für die ehemalige Existenz einer Kapelle zu entdecken.
Schließlich gaben sie es auf.
»Wir müssen heute Nacht aufpassen, was sich am Gebäude verändert hat«, sagte Zamorra. »Martin, Jeanne und auch du, Nicole, müssen darauf achten. Vielleicht können wir dann morgen etwas feststellen.«
Zamorra verordnete Bettruhe, und alle fügten sich.
Lediglich der Professor sprach noch mit dem Verwalterehepaar und dem alten Jean-Paul.
Sie versprachen, auf Veränderungen der Gebäude zu achten und sich sofort Notizen zu machen.
Dann legte auch Zamorra sich hin, konnte aber nicht einschlafen.
Er überdachte nochmals sein Konzept für die nächste Nacht und stellte fest, dass er keinen Fehler gemacht hatte.
Schließlich schlief er ein und erwachte erst kurz vor Mitternacht.
Die Geräusche verrieten ihm, dass auch die anderen bereits auf den Beinen waren.
Schnell zog der Gelehrte sich an und vergewisserte sich, dass das Amulett in der Tasche steckte.
Nochmals überlegte er und sprach dann die Worte der Beschwörung leise vor sich hin.
Immer noch konnte er keinen Fehler entdecken. Wenn seine Vermutung richtig war, konnten diese Worte helfen, den Spuk zu beenden.
Professor Zamorra ging ins Verwalterhaus und erhielt eine Tasse Kaffee. Niemand sprach, alle sahen den hoch gewachsenen, schlanken Mann an, der da so selbstsicher vor ihnen stand.
Die Uhr der Kirche in Seissan schlug Mitternacht.
Bevor der letzte Ton verhallt war, standen die sechs Menschen auf dem Hof, der sich wieder seltsam verändert hatte.
Der Asphalt war verschwunden, stattdessen bildeten Pflastersteine die Oberfläche des Hofes.
In dieser Nacht brannten keine Feuer, dafür waren aber einige Galgen aufgestellt.
Im Hintergrund des Schlosshofes, nahe am Teich, waren einige Gestalten zu sehen.
Jetzt gingen sie auf das Portal des Schlosses zu.
Es war der Mönch mit seinen beiden Gehilfen. Kaum hatten sie die erste Stufe betreten, öffneten sich die großen
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