005 - Wrack aus der Vergangenheit
Fingerglied fehlte. Bis jetzt hatte keiner von uns herausgefunden, wo er es gelassen hatte. Er zog vor, es mit einem Geheimnis zu umgeben. Überhaupt sah er sich gern im Mittelpunkt. Sein blauschwarzes, langes Haar lockte angeblich Frauen an wie Motten das Licht. Zu seinem Leidwesen allerdings war Tanya Genada, seine ›Landsmännin‹, nicht ganz so begeistert von ihm wie er es anscheinend von Frauen gewohnt war.
Seltsam, wenn ich sie anschaute, bekam ich regelmäßig eine trockene Kehle. Oder mir wurde auf einmal zu warm …
»Was beschwerst du dich?«, fragte Maister vorlaut. »Unser Freund hier hat das schon ganz allein erledigt. Habt ihr gesehen, wie Ken Randall den Schocker gezogen hat? Ich sah mal ‘n alten Western aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Mann, Ken Randall hätte damals todsicher ‘ne gute Figur abgegeben.«
»Du nicht, was?«, erkundigte sich Mario anzüglich.
Mir war klar, dass die dummen Sprüche nur ihre Furcht vor den unbekannten Gefahren kaschieren sollten, die uns hier erwarteten. Außerdem: Unsere Erfahrung von Phönix lehrte uns, dass es sobald kein Entrinnen gab …
Yörg Maister schwieg beleidigt.
»Und jetzt ‘raus hier, bevor noch mehr passiert!«, sagte der Russe und schob sich an mir vorbei. Sein kahler Schädel glänzte im Computerlicht wie frisch poliert. Nicht, dass ihm keine Haare mehr wuchsen: Es war nur ein Modegag.
Die Gruppe blieb automatisch beisammen, als wir dorthin gingen, wo der verkleidete Roboter eingetreten war. Jetzt lag er schwer beschädigt am Boden. Terranische Schockstrahlen schienen seiner Technik wahrlich schlecht zu bekommen.
Dr. Dimitrij Wassilow stöhnte laut auf. Er verbarg uns die Sicht, weshalb wir nicht sofort sehen konnten, was ihm die Sprache verschlug. Der Anblick allein schon wirkte auf ihn wie ein Schock …
*
Dr. Wassilow galt nicht gerade als übertrieben empfindsam. Auf die meisten durfte er eher abgebrüht wirken – wie einer, den man nicht so schnell aus der Ruhe bringen konnte. Aber diesmal konnte ich ihn gut verstehen: Auch mir verschlug der Anblick glatt die Sprache: Wir befanden uns inmitten eines gigantischen Dschungels!
Die Bäume waren so hoch wie Wolkenkratzer. Dabei wirkten sie ungewöhnlich schlank, als müssten sie eigentlich beim geringsten Windhauch abknicken. Dass dies nicht geschah, dafür gab es mindestens zwei Gründe, von denen einer sofort ins Auge stach: Die Baumkronen waren oben so zusammen gewachsen, dass die Urwaldriesen ein regelrechtes grünes Dach bildeten. Der zweite Grund war, dass die Schwerkraft von Dschungelwelt schätzungsweise 0,8 g betrug, also nur vier Fünftel wie auf der Erde. Kein Wunder, dass ich den schweren Roboter so leicht hatte stemmen können. Im Vergleich zur Erde hatte er nicht mehr gewogen als ein lebendiges Wesen in dieser Größe.
Eigentlich wurde uns allen erst jetzt so richtig bewusst, dass wir allein an den veränderten Schwerkraftverhältnissen hätten sofort erkennen müssen, dass dies hier weder die Erde, noch Phönix sein konnte.
»Mann, o Mann!«, rief Dr. Yörg Maister in seiner unkonventionellen Art. Er war der Bioniker unter uns, weshalb er sich anscheinend zuständig fühlte, diesen Planeten sofort zu taufen: »Vetusta!« Niemand fragte ihn, wie er auf diesen Namen gekommen war. Er erklärte es uns trotzdem: »Ist lateinisch und bedeutet soviel wie Urwald!«
»Wie wahr, wie wahr!«, sagte Mario Servantes gedehnt. Er war Physiker und grüne Natur hatte ihn anscheinend nie sonderlich interessiert. Diese hier schien ihm sogar Furcht einzuflößen. Der fünfunddreißigjährige Spanier wich zur Seite, damit auch die anderen das ganze Ausmaß dieser grünen Hölle überschauen konnten.
»Jetzt ist mir auch klar, warum uns so ein verkleideter Roboter angriff!«, behauptete Maister. Er schaute sich beifallheischend in der Runde um. Als niemand so recht reagieren wollte, kratzte er sich erst den Backenbart, rieb sich danach über die Stirnglatze und strich zum Abschluss den verbliebenen Rest von schwarzen Haaren glatt. »Äh, scheint sich um so ‘ne Art von Arbeitsroboter zu handeln. Der Umgebung angepasst, weil es hier ganz offensichtlich irgendwelche Wesen gibt, die …?« Schon wieder schaute er sich um. Jetzt zeigten sich alle plötzlich interessiert. Er lächelte und kostete seinen kleinen Triumph erst einmal ein paar Sekunden aus, bevor er mit der Zunge schnalzte und sagte: »Tja, sonst hätten sich seine Erbauer mit der Verkleidung ja keine so große Mühe zu
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