006 - Der Fluch der blutenden Augen
und
starrte in den finsteren Schacht hinunter. Die Treppen, die in die Tiefe
führten, waren steil und schmal. Links und rechts war das rohe Gemäuer
sichtbar. Ein langer Gang schien kerzengerade in die Finsternis zu führen, er
konnte es nur erahnen.
Colin stieg nach unten, langsam, jede einzelne Faser seiner Nerven und
seiner Muskeln war zum Zerreißen gespannt. Er zog lautlos die Klappe über
seinem Kopf herab und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt
hatten, dann erkannte er, dass der Gang vor ihm sehr kurz war und gleich darauf
nach links abbog. Und von da an beleuchteten flackernde Fackeln den unebenen
Pfad, der zwischen den rohen Wänden, die aus unbehauenen Steinen bestanden,
hindurchführte.
Colin Grisp hörte die Stimmen, laut und deutlich. Sie hallten unheimlich
durch die von den Fackeln erhellte Finsternis, schienen vom Ende eines fernen
Rohres her an sein Gehör zu dröhnen und verebbten hinter ihm im Dunkel.
Der Weg unter dem Haus des reichen Inders war künstlich angelegt worden. Es
sah alles so unfertig aus, als habe man sich mühselig einen Weg durch hartes
Gestein brechen müssen.
Die Steine waren rau und scharfkantig. Colin Grisp presste sich eng an sie.
Manche Brocken ragten so weit aus der Wand, dass sie seinen Körper fast
verdeckten.
Er lauschte den Worten, die, wie von einem Windhauch getrieben, an ihm
vorüberzogen. Es war die Rede von Kali, von Robertsons Verfehlung, von seiner
Schuld. Dann erfolgte ein Aufschrei, der aus sieben, acht Kehlen gleichzeitig
kam.
»Kaaaliii!«
Danach rumorte es, Colin Grisp hörte einen dumpfen Schlag, ein schwerer
Körper fiel zu Boden, etwas wurde über eine glatte Fläche geschleift.
Er wagte es, ein paar Schritte nach vorn zu machen, erreichte das Ende des
Ganges und blickte in einen kreisrunden Saal, der sauber und gepflegt war. Im
Fackellicht sah er den geheimen, grausamen Tempel. Die zwölf Arme der Göttin
Kali wurden als bizarre Schatten an die Decke schräg über ihm geworfen. Mit
einem Blick erfasste Colin die Umgebung; das Gemälde, das den Fremden
darstellte, der gefesselt an diesen Ort gebracht worden war. Die Leinwand war
über dem Gesicht bis zur Brust herab von einem scharfen Messer aufgeschlitzt,
das Bild blutbesudelt. Blut, das eingetrocknet war und auch auf dem Boden vor
dem steinernen Altar gespritzt war.
Grisp fühlte, wie seine Kehle trocken wurde. Ein Schauer lief über seinen
Rücken.
Wie hypnotisiert blickten seine Augen auf den übermannsgroßen Steinkoloss,
der die Göttin Kali darstellte. Eine verbotene, grausame Sekte, die für ihre
rituellen Handlungen Blut benötigte?
Die Geräusche entfernten sich, und im Halbdunkel der gegenüberliegenden
Wand erkannte Colin Grisp die dunklen Schatten, die sich in der Tiefe eines
anderen Stollens entfernten. Sie benutzten nicht den Weg, den sie gekommen
waren!
Colin Grisp löste sich von der kühlen Wand und betrat den geheimnisvollen
Tempel, in dem es nach Weihrauchstäbchen und Blut roch. Er konnte nicht umhin,
das Bild näher zu betrachten, das Larry Brent darstellte. Er warf einen Blick
hinter die Leinwand und sah die klebrigen Reste einer Schweinsblase, die
unmittelbar hinter dem Oberkörper angebracht gewesen war. Ein Trick, mit dem
man den versammelten Sektierern etwas vorgegaukelt hatte?
Doch das Blut war echt. Colin Grisp musste an die Ziegen und Schweine
denken, die oft in das Kensingtons House gefahren
worden waren. Blutopfer für die nach Blut dürstende Kehle der Göttin Kali?
Colins Wissen von der Mystik Indiens reichte so weit, dass er wusste: In
früheren Zeiten waren dieser grausamen Göttin Menschen geopfert worden. Er nahm
eine Blutprobe an sich, wollte es genau wissen, falls er aus diesem düsteren,
unheimlichen Keller herauskommen sollte.
Jetzt aber durfte er sich dort nicht länger aufhalten. Er musste wissen,
was Rasmandah und seine Begleiter mit dem Fremden vorhatten, den sie in einer
ungewöhnlich kurzen Zeremonie vor den Augen der Göttin Kali angeklagt hatten.
Er musste ihnen auf den Fersen bleiben, ohne selbst auf der Bildfläche zu
erscheinen. Colin wandte sich ab. Sein Blick streifte nur flüchtig die
bläuliche, mannshohe Gestalt des Hausgottes Swomi. Die Statue glänzte, als sei
sie mit Öl eingerieben. Das große und breite Gesicht hatte typisch asiatische
Züge. Die Augen waren dunkel, ausdrucksvoll und so ausgerichtet, dass sie den
Blick des Betrachters aus jeder Richtung erwiderten.
Colin Grisp ging an Swomi vorüber.
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