006 - Der Fluch der blutenden Augen
Wollte
vorübergehen , als das Unheimliche, das Unfassbare geschah.
Die rechte Hand der bläulich glänzenden Statue, die den geflammten,
rasiermesserscharfen Dolch hielt, sauste herab.
Die gewellte Schneide bohrte sich zwischen Colins Schulterblätter. Der
Privatdetektiv hielt wie vom Blitz getroffen in der Bewegung inne. Ein
gurgelnder Laut kam über seine Lippen, dann brach er stumm zusammen.
●
Er öffnete die Augen. Im ersten Augenblick empfing er kein Bild, sondern vernahm
nur Geräusche. Es war, als ob ein Schweißbrenner in seiner unmittelbaren Nähe
zischte.
»Er kommt zu sich«, sagte eine Stimme im Dunkeln neben ihm. Larry Brent
wurde schlagartig hellwach. Sie hatten ihn niedergeschlagen, unten in dem
geheimen Tempel, vor den Augen der grausamen Göttin Kali, der diese Sekte
huldigte. Er war auf die Spuren einer Gruppe gestoßen, die einem Glauben
anhing, den man schon vor fast hundert Jahren in Indien für ausgerottet hielt.
Hier, in der Umgebung von London, in den Kellergewölben des Hauses eines
vornehmen Kaufmannes!
Larry Brent konnte es nicht fassen. Doch jetzt nahmen die Dinge Gestalt an,
und er fing an, manches zu begreifen. Rasmandahs religiöse Besessenheit war für
die Ereignisse verantwortlich. Doch der Inder stritt Larrys Beschuldigungen ab.
»Ich habe einen Auftrag«, hatte er geantwortet. »Den Auftrag meines Gottes.
Er ist nicht aus Stein, er besteht aus Fleisch und Blut, er kann zu mir
sprechen, aber das werden Sie, Robertson, niemals verstehen. Swomi, selbst nur
ein Diener Kalis, hat die Vermittlerrolle zwischen der höchsten Göttin und mir,
einem armseligen Sohn Kalis, übernommen. Es ist kein Zufall, dass wir Sie nach
Indien schicken. Vielleicht löst die Anwesenheit Kalis – von der Sie in meinem
Tempel nur einen Abklatsch sahen – in dem Tempel
der Toten Ihre Zunge. Doch selbst wenn Sie das Versteck der Blutenden Augen nicht verraten, werden
wir sie eines Tages finden. Niemand wird glücklich, der sie besitzt, der Fluch
trifft sie alle. Auch Sie haben wir gefunden, Robertson. Im Tempel der Toten werden fürchterliche
Qualen auf Sie warten. Sie haben Zeit, zu überlegen, ob Sie es darauf ankommen
lassen wollen. Der Flug nach Indien gibt Ihnen dazu Gelegenheit.«
Sie wollten ihn nach Indien verschleppen? Larry merkte, dass er die Frage
halblaut vor sich hinmurmelte.
»Ja, Robertson. Und es gibt dabei gar keine Schwierigkeit. Ihre Verpackung
ist fertig. In knapp einer Stunde geht eine von mir gecharterte
Transportmaschine. Sie ist ausschließlich mit Gütern für meine Zweigstellen in
meinem Geburtsland beladen. Es wird keine Schwierigkeiten bereiten, eine Kiste
auszutauschen, die vom Zoll bereits bestätigt wurde. Sie sehen, ich habe
überall Freunde. Mein Reichtum macht es mir leicht, manches zu unternehmen, was
für einen anderen ein unüberwindliches Hindernis darstellen würde.«
»Sogar das Verbrechen?« fragte Larry rau. Seine Stimme hatte kaum Klang.
Mühsam richtete er sich auf. Er lag auf dem Boden in einer Ladehalle, wie sie
am Hafen üblich war, und hörte das Rauschen von Wasser, in der Ferne das
Tuckern eines Außenborders.
Rasmandah trat aus dem Kernschatten. Das Dunkel der Halle wurde durch zwei
gelblich glühende Petroleumlampen vertrieben, die direkt über ihm an der Decke
hingen und eine kreisförmige Fläche zwischen den Kisten und Kasten, den Tonnen
und Kartons freilegten. Larry erkannte die schattigen Umrisse einer weiteren
Gestalt vorn am Tor der Halle. Ein Inder, der den Eingang bewachte. Ein dritter
Inder, außer Rasmandah, saß auf einer Holzkiste und rauchte eine Zigarette. Er
war nur knapp einen Meter von dem Amerikaner entfernt.
»Was Sie gestern Nacht verhindern konnten, wird jetzt dennoch ausgeführt
werden, nur eben mit 24stündiger Verspätung, Robertson, das ist alles!« Der
Hohn und der Triumph in Rasmandahs Stimme waren nicht zu überhören. »Die
Barkasse steht schon bereit. Sie werden eine kleine Bootsfahrt auf der
nächtlichen Themse unternehmen. Diese Fahrt geht bis zum Fulharn Ground. Dort
steht ein Lkw meiner Firma bereit, der Sie, schön verpackt, zum Heathrow Airport
bringen wird.« Eine kaum merkliche Geste des geheimnisumwitterten Sektenführers
beförderte einen weiteren Inder aus dem Dunkel der Ladehalle, den Larry bis zu
diesem Augenblick noch nicht bemerkt hatte.
Der Amerikaner wurde auf die Beine gezerrt. Zwischen zwei Kistenstapeln
führte ein schmaler Weg auf eine Tür zu, die sich jetzt öffnete. In
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