006 - Der Fluch der blutenden Augen
Wangenmuskeln zuckten. Mutwillig knüllte er die Reste einer
Morgenzeitung zusammen und warf diesen Papierball wütend zu Boden.
Umgehend, hatte er geschrieben. Shena aber hatte sich nicht
umgehend gemeldet.
Unruhe und Erregung nahmen zu und ließen Oliver ruhelos durch den kleinen,
einfach eingerichteten Raum wandern, der im ersten Stock lag. Er konnte von
hier aus auf die schmutzige Dorfstraße hinuntersehen. Kinder spielten im
Schatten der einfachen Häuser. Hühner gackerten unter einem klapprigen
Leiterwagen herum. Die Menschen dieser Gegend waren arm, selbst die Hunde waren
so dürr, dass man ihre Rippen zählen konnte. Das karge Land gab nicht genügend
Nahrung für die Menschen her.
Oliver Sholtres kannte Indien wie kein Zweiter. Es war nicht sein erster
Besuch in diesem Land. Die atemberaubende Vielseitigkeit der riesigen Nation
wurde von keinem anderen Land der Welt überboten. Menschen der verschiedensten
Rassen und Kulturstufen. Dutzende verschiedener Sprachen, von denen sich einige
weniger ähnelten als Deutsch und Arabisch. Neben den höchsten Vollendungen in
der Kunst und in der Philosophie gab es die endlose Liste eines unbegreiflich
primitiven Aberglaubens, und manchmal schien es ihm, als wären all die
Gegensätze dieses ungewöhnlichen Landes auch in Shena, dem Dichter, vereint.
Jagte er nicht einem Phantom nach? Einem, das der Aberglaube geboren hatte?
Mit einer resignierenden Geste winkte Oliver Sholtres ab. Je mehr er
darüber nachdachte, um so weniger begriff er. Er gähnte. Die Hitze war
unerträglich, und der Ventilator im Zimmer ging nicht. Es gab keinen Techniker
im Ort, der ihn reparieren konnte.
Die Luft war trocken und staubig, und man fühlte die Nähe der großen Wüste
Tharr, dieser endlosen Sandfläche, die fast den ganzen Westen des Landes
einnahm. In manchen Jahren war es so trocken, dass die Straße Risse zeigte, und
es fiel kein Regentropfen. Oliver Sholtres ließ sich matt auf die einfache
Bettstatt plumpsen, streckte die Beine weit von sich und schloss die Augen.
»Egal«, kam es plötzlich wie im Selbstgespräch über seine Lippen.
»Jetzt ist es mir egal! Etwas muss geschehen!« Er musste Shena aufsuchen.
●
Larry hatte den Wunsch, sich auszustrecken, doch es ging nicht. Die Wände
der Tonne hinderten ihn daran.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, und die gleichmäßige
Finsternis, die ihn seit den ersten Minuten seines Aufenthaltes umgab, hatte
ihn jegliches Zeitgefühl vergessen lassen.
Von außen her drang kein Geräusch in sein hermetisch abgeschlossenes
Gefängnis. Das Zischen des Sauerstoffs erfüllte sein Gehör. Er konnte nicht
einmal feststellen, ob er inzwischen schon die zweite Sauerstoffflasche
angebrochen hatte. Das hätte ihm in etwa ein Zeitmaß gegeben.
Das Dröhnen der Flugzeugmotoren war inzwischen noch einmal sehr stark
geworden, und es schien, als sei die Maschine irgendwo zwischengelandet. Aber
selbst das vermochte er nicht mit Gewissheit zu erkennen. Einmal bemerkte er,
wie die Tonne, die sich innerhalb der großen Holzkiste befand, bewegt wurde.
War er am Ziel?
Er hatte das Gefühl, dass eine Ewigkeit vergangen sein musste, aber er
wusste auch, dass eine Stunde zur Ewigkeit werden konnte.
Seine Glieder schmerzten, seine Haut kribbelte, der winzige Raum, der ihn
umgab, wurde ihm erst so recht bewusst.
Einmal lag die Tonne schräg, er merkte die Bewegung ganz deutlich, dann
wurde sie langsam in die Höhe gezogen. Dumpf hallte es an seine Ohren, als
irgendetwas gegen die äußere Schatzkiste knallte.
Wieder verging eine Ewigkeit in der Finsternis. Dann abermals Bewegungen,
Geräusche, die er nicht definieren konnte. Dann Stille.
Die Tonne stand.
Und plötzlich merkte er, dass sich jemand an dem Metallgefäß, in dem er
steckte, zu schaffen machte. Es rumorte, kratzte und schliff auf der äußeren
Metallhülle, dann drehte sich der Deckel über ihm.
Larry nahm sich vor, auf jede Situation gefasst zu sein, jede Chance, die
sich ihm bot, sofort zu nützen. Ob er es jedoch mit Freund oder Feind zu tun
hatte, wusste er nicht.
Der Deckel wurde in die Höhe gezogen. Larry rechnete damit, dass volles
Tageslicht auf ihn hereinfallen würde, doch es war nur eine gelbliche Lampe, die
ihn anstrahlte.
»Mister Robertson?« fragte eine heisere Stimme, Hände griffen nach ihm und
waren ihm behilflich, in die Höhe zu kommen.
Larry Brent war erstaunt über den freundlichen Tonfall in der Stimme. Er
war völlig verkrampft und für
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