0064 - Die Mühle der Toten
möglichen Reiseetiketten beklebten Koffer. Er schaute drein, als halte er sich für besonders clever im allgemeinen und unwiderstehlich im besonderen.
Im Bus hatte er neben Paulette Martier gesessen, durch den Mittelgang von ihr getrennt. Seine Versuche, ein Gespräch mit ihr anzufangen, waren gescheitert.
Jetzt lachte er sie an.
»Das kann doch kein Zufall sein, daß wir hier zusammen aussteigen, Mademoiselle. Das ist ein Wink des Schicksals. Werden Sie länger in Bresteville bleiben?«
»Ich weiß es noch nicht«, sagte Paulette, und sie ärgerte sich, weil sie keine Ahnung hatte, was sie eigentlich hier wollte.
Ein ihr selbst unerklärlicher Zwang hatte sie hergetrieben. Sie war noch nie zuvor in Bresteville gewesen und hatte bis vor ein paar Tagen nicht gewußt, daß ein Dorf dieses Namens überhaupt existierte.
Unschlüssig sah das rothaarige Mädchen sich um. Paulette Martier war keine Schönheit, aber sie hatte eine gute Figur und ein leidlich hübsches Gesicht. Sie wirkte vital, und ihre Art zu gehen und sich zu bewegen zog Männerblicke an.
Ein Freund hatte Paulette einmal gesagt, sie hätte ein sinnliches Flair. Das stimmte, obwohl sie sich keine Mühe gab, es zu fördern.
»Wohnen Sie hier?« fragte der junge Mann.
Paulette schüttelte den Kopf.
»Haben Sie Verwandte oder Bekannte in Bresteville, bei denen Sie übernachten werden?«
»Nein«, sagte Paulette. »Ich werde in einem Hotel übernachten, Monsieur. Und zwar allein.«
»Oh, ich will Sie nicht belästigen oder Ihnen zu nahe treten. Ich wohne auch im Hotel, im ›Grappe blanc‹. Ein Haus mit soliden Preisen, gutbürgerlich, wie mir im Reisebüro gesagt wurde. Wenn Sie noch keine Unterkunft haben, steigen Sie doch auch dort ab. Oder finden Sie mich so fürchterlich, daß Sie mit mir nicht unter einem Dach wohnen mögen?«
Er übertrieb, und er entwickelte einigen Charme. Paulette lachte.
Das Eis war gebrochen. Sie kannte in Bresteville keinen Menschen.
Wenn sie sich ein wenig an diesen jungen Mann hielt, war sie nicht ganz so allein und verlassen.
Auf Distanz halten konnte sie ihn schon, überlegte sie.
»Also gut, ich werde mir das ›Grappe blanc‹ ansehen.«
Der junge Mann stellte sich nun vor. Er hieß Roger Defils und kam aus Lyon. Paulette nannte ihren Namen. Defils fragte einen Passanten und erfuhr, daß die Gaststätte und Hotel ›Weiße Traube‹ sich nicht weit entfernt befand.
Der Mann beschrieb den Weg, und Roger Defils bedankte sich. Defils spielte Kavalier und trug Paulettes Reisetasche. Bald kam die unvermeidliche, banale Frage.
»Was macht ein so hübsches Mädchen wie Sie in einem Nest wie Bresteville?«
»Ich wollte ein wenig Landluft schnuppern«, sagte Paulette schnippisch. »Ich frage Sie auch nicht, was Sie hierherführt, Monsieur Defils.«
»Sie können ruhig Roger zu mir sagen. Um die Wahrheit zu sagen, ich könnte Ihnen beim besten Willen nicht erzählen, was ich hier eigentlich will.« Defils lachte ein wenig verlegen, was bei ihm seltsam wirkte. »Es trieb mich einfach hierher, in dieses Nest, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte. Ich hatte Geschäfte und eine Menge anderer Pläne. Aber dann wachte ich eines Morgens auf, und ich wuß- te, du mußt nach Bresteville an der Charente. Tja, und jetzt bin ich hier.«
Sie waren in eine andere Straße eingebogen. Vor einem Friseurgeschäft blieb Paulette stehen.
»Ist das Ihr Ernst?«
»Allerdings. Hoffentlich komme ich Ihnen jetzt nicht komisch vor. Oder Sie nehmen doch nicht an, daß bei mir im Oberstübchen nicht alles stimmt? Das ist mir zum erstenmal passiert. Merkwürdig, nicht?«
»Sehr merkwürdig, Monsieur Defils. Mir geht es nämlich genau wie Ihnen. Ich bin Soziologiestudentin und mitten im Semester hierhergereist. Es war wie ein innerer Zwang.«
Jetzt war Defils überrascht. Sie gingen weiter. Sie erzählten sich ein wenig mehr über sich. Roger Defils war Handelsvertreter. Er vertrieb Haushaltsgeräte. In großem Rahmen, wie er sagte. Paulette glaubte eher, daß er von Tür zu Tür ging und Staubsauger und dergleichen vorführte.
Paulette Martier und Roger Defils hatten nichts gemeinsam. Und doch waren sie beide von einem geheimnisvollen Zwang nach Bresteville gerufen worden. Es mußte einen Grund dafür geben. Beide ahnten noch nicht, was auf sie zukommen würde…
***
Professor Zamorra stellte seinen Citroën im Hof des Gasthof-Hotels ›Grappe blanc‹ ab. Er und Bill Fleming trugen die Koffer ins Haus.
Nicole folgte ihnen.
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