0068 - Die Geisternacht
Bauwerke hielten weitgehend durch das schiere Eigengewicht ihrer Steine zusammen. Wenn erst einmal irgendwo Lücken entstanden, wurde das ganze zu einer wackligen Angelegenheit und stürzte zusammen. So wie es hier geschehen war.
Wie sehr die Öffentlichkeit von dieser Ruine in der Vergangenheit ferngeblieben war, konnte man auch an der Tatsache erkennen, dass sogar noch Teilstücke von antiken Götzenfiguren vorhanden waren.
Undenkbar, wenn man andere Kultstätten der Azteken zum Vergleich heranzog. Solche Funde wanderten normalerweise unverzüglich in Museen oder in die Hände von Privatsammlern. Hier jedoch hätten ausgrabungswütige Archäologen noch ein weites Betätigungsfeld gefunden.
Normalerweise wären auch Zamorra und seine Freunde von den Überbleibseln einer großen Vergangenheit fasziniert gewesen. Heute aber stand ihnen nicht der Sinn nach alten Kulturgütern. Die Vorkommnisse, deren Zeuge sie gerade gewesen waren, hatten sie innerlich zu sehr aufgewühlt, wühlten sie noch immer auf.
Das Mädchen auf dem Opferstein…
Nicole wandte sich aufstöhnend ab und übergab sich hinter einem Gesteinsquader. Zamorra und Bill mussten ebenfalls um ihre Beherrschung ringen.
Die Tote war eine junge hübsche Indianerin. Die Unholde hatten ihr Gesicht bunt bemalt und Federn in die Haare gesteckt. Und dann hatten sie ihr das Herz aus dem Leib geschnitten. Noch abscheulicher wurde die grausame Tat dadurch, dass die junge Frau hochschwanger gewesen war.
»Diese Schweine!«, stieß Bill Fleming erbittert hervor. »Wie können Menschen von heute nur so etwas tun?«
Zamorra musste ihm recht geben. Zugegeben, die furchtbare Sitte der Menschenopferungen war im alten Mexiko gang und gäbe gewesen. Der Glaube, dass die Götter nur durch Menschenopfer beschwichtigt werden konnten, war tief verwurzelt im Wesen und Denken der Azteken und ihrer Nachbarn gewesen. So unverständlich diese grausamen Bräuche auch für Menschen des Abendlands sein mochten, man musste sie akzeptieren. Die alten Völker Mittelamerikas, in Aberglauben und religiösem Fanatismus verstrickt, waren überzeugt davon gewesen, richtig zu handeln. Menschen von heute jedoch…
Zamorra und Bill bedeckten den furchtbar zugerichteten Leichnam der Indianerin mit ihren Jacketts und wandten sich ab.
Der Professor hatte sich von Padre Henrique die Stelle ziemlich genau beschreiben lassen, an der sich in der Vergangenheit der schwebende Körper des sagenhaften Xamotecuhtli gezeigt haben sollte. Er fand die Stelle auch – zwei waagerecht nebeneinanderliegende Steinquader, von denen der eine die Form eines geometrischen Trapezes aufwies. Von einer schlafenden Gestalt, die auf einer Wolke schwebte, war jedoch nichts zu sehen.
Etwa zwei Meter über den Quadern sollte Xamotecuhtli schweben, hatte Henrique gesagt. Zamorra streckte die Hand aus und ruderte damit in der Luft herum.
Da war doch etwas!
Nicht dass seine Hand auf Widerstand gestoßen wäre, nein, das nicht. Aber irgendwie war ihm, als hätte er in ein Feld gefasst, das ganz schwach elektrisch aufgeladen war, kaum merklich, aber immerhin.
»Bill!«, rief er. »Komm doch mal!«
Der Freund war sofort an seiner Seite. Zamorra bat ihn, ebenfalls die Hand auszustrecken. Der Amerikaner kam der Aufforderung nach.
Kopfschüttelnd ließ er die Hand wieder sinken.
»Hast du nichts gespürt, Bill?«
»Kein Stück«, antwortete der Historiker. »Nimm es mir nicht übel, lieber Freund. Aber wenn du mich fragst – du leidest unter Einbildungen.«
Nicole testete die Luft ebenfalls. Sie schloss sich Bills Ansicht an.
»Da ist nichts, Chef«, sagte sie überzeugt. »Wirklich nichts.«
Zamorra ließ die Sache auf sich beruhen. Aber er war keineswegs überzeugt. Er wusste, was er gespürt hatte. Unauffällig wiederholte er seinen Versuch. Das Ergebnis blieb – ein ganz leichtes, kaum spürbares Kribbeln.
Und noch einen weiteren Anhaltspunkt gab es dafür, dass er nicht unter Einbildungen litt. Das Amulett auf seiner Brust gab Wärme ab.
Und das tat es nur, wenn sich irgendwo in der Nähe übernatürliche Kräfte manifestiert hatten.
Die Freunde machten sich jetzt an eine eingehende Untersuchung der Ruinenlandschaft. Irgendwo mussten die Jünger des Schrecklichen und ihre Opfer ja geblieben sein. Dass sie sich tatsächlich in Luft aufgelöst hatten, wollte Zamorra nicht glauben, selbst wenn sie sich unheiliger Mittel bedienen konnten. Vielleicht gab es hier unterirdische Kammern, in denen sie sich versteckt
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