0068 - Die Geisternacht
aufmerksam.
»Hör auf, Bill!«, zischte er dem Historiker zu. »Das hat doch überhaupt keinen Zweck!«
Gleichzeitig tastete er nach seiner eigenen Waffe. Er bezweifelte jedoch, dass sie ihm allzu viel nützen würde. Menschen, die mit dem Bösen im Bunde waren, musste man mit anderen Mitteln beikommen. Sein Amulett würde ein weitaus besserer Helfer im Kampf gegen die Jünger des Schrecklichen sein.
Schon spürte er, wie es sich auf seiner Brust erwärmte. Die Nähe finsterer Kräfte machte sich bemerkbar. Er war gewappnet. In ausreichendem Maße? Die Unmenschen waren eindeutig in der Überzahl. Es würde schwer werden, sie sich alle gleichzeitig vom Hals zu halten. Die Schwierigkeiten, die er mit dem nächtlichen Besucher und seiner Bestie gehabt hatte, standen ihm nur allzu deutlich vor Augen.
Bills Schießübungen hatten die Diener Tezcatlipocas alarmiert. Sie waren hochgesprungen und starrten zu ihnen herüber. Zamorra rechnete jeden Augenblick damit, dass sie von ihren Höllenkünsten Gebrauch machen würden. Raubtiere, rotglühende Feuerstrahlen, andere teuflische Überraschungen mehr.
In die Indianer kam Bewegung. Einer von ihnen rannte plötzlich los, kam mit stampfenden Schritten auf sie zu. Er war sehr unsicher auf den Beinen, stolperte mehrmals und fiel schließlich sogar hin.
Zamorra erkannte, dass er seine Hände nicht frei bewegen konnte.
Sie waren auf dem Rücken zusammengebunden worden.
Ganz offensichtlich war der Flüchtling keiner der Jünger. Schien ein Gefangener zu sein, ein Gefangener, der die Gelegenheit genutzt hatte, einen Ausreißversuch zu unternehmen.
Der Versuch misslang kläglich. Etwa zehn, fünfzehn Meter hatte der Flüchtende zurückgelegt, dann war seine Flucht auch schon zu Ende. Es gelang ihm nicht, wieder auf die Füße zu kommen. Ein Feuerstrahl zuckte wie ein glühender Pfeil durch die Luft, raste genau auf den Gestürzten zu. Eine Sekunde später stand er wie ein Napalmopfer in hellen Flammen.
Zamorra drängte Nicole zurück, die sich mittlerweile zu weit aus dem Schutz des Felsens gewagt hatte.
»Zurück, Nicole!«, wies er sie an. »Die Kerle können jeden Augenblick ihre magischen Kräfte gegen uns mobilisieren.«
Die Frau gehorchte. Auch Bill hatte sich wieder hinter den Felsen gekauert, nicht ohne vorher das Magazin seines Revolvers wieder aufzufüllen.
Die drei Freunde erwarteten den Sturmangriff der Jünger Tezcatlipocas.
Überraschenderweise blieb dieser jedoch aus. Die Kerle machten keinerlei Anstalten, die Ruinenstätte zu verlassen. Sie taten vielmehr das genaue Gegenteil, wandten den Freunden den Rücken zu und bewegten sich tiefer in die Trümmerlandschaft hinein. Diejenigen, die nicht mit den Jaguarfellen bekleidet waren, wurden mit roher Gewalt mitgezerrt.
Alle Figuren entschwanden schließlich Zamorras, Nicoles und Bills Blicken.
Wie hatte doch der Padre in Sacromonte gesagt? »Sie verschwinden, als hätte sie der Erdboden verschluckt!«
Genauso sah es aus. Drüben zwischen den Ruinen rührte sich nichts mehr. Nur die Gestalt des Mädchens, das die Unholde geopfert hatten, war zurückgeblieben. Reglos lag sie auf dem Stein, der ihr zum Schicksal geworden war.
Außerdem war da noch der Mann, der den Fluchtversuch unternommen hatte. Die teuflischen Flammen hatten ihn schon fast völlig verzehrt, flackerten nur noch leicht. Von dem Mann selbst würde gleich nichts mehr übrig geblieben sein. Asche, genau wie bei dem Indio vor dem Straßencafe in der Altstadt.
Die Freunde warteten noch ein paar Minuten ab. Dann verließen sie ihre Deckung und gingen vorsichtig zu der Tempelruine hinüber.
***
Es stellte sich schnell heraus, dass ihre Vorsicht überflüssig war. Als sie die verfallene Tempelstätte erreichten, erkannten sie sofort, dass sie allein waren. Kein lebendes Wesen befand sich in der Nähe. Die Jünger Tezcatlipocas und ihre Gefangenen hatten sich verflüchtigt wie der Staub im Wind. Lavagestein und Trümmer bestimmten das Bild.
Die Trümmer sahen alt aus, viel älter als fünfhundert Jahre. Wahrscheinlich hatte das Bauwerk zur Zeit der Azteken bereits eine Reihe von Generationen gestanden. Und doch konnte man noch immer einiges von dem alten Glanz ahnen, den der Tempel einst gehabt haben mochte. Wuchtige Steinquader, aus dem Mauerverbund gelöst, türmten sich wie Zyklopenfüße. Von dem Mörtel, den man damals benutzt hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Die Alten hatten die Bindungsmittel der Moderne noch nicht gekannt. Ihre
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