0068 - Die Geisternacht
entgegengesetzt hatten… Ein gewisses Staunen über den Fremdling mit der Hautfarbe von Maismehl … Und natürlich der Triumph, letzten Endes doch Sieger zu sein.
Weiter und weiter schoben sie sich vor. Wie eine unerbittliche Walze, die alles in den Staub drückte.
Zamorra erkannte ihre Absicht. Die Krieger wollten sie lebend haben, wollten sie zu Gefangenen machen.
Gefangene machen – das war der Lebensinhalt des Kriegers. Nicht das Töten im Kampf stand bei ihm im Vordergrund. Das Töten kam erst später.
Auf den Opfersteinen der Götter, wo sich das Schicksal aller Gefangenen erfüllte.
Und dann plötzlich stoppte der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der aztekischen Soldaten. Wie gebannt blieben sie stehen.
Ihre Blicke waren nicht mehr auf Zamorra und Pizana gerichtet. Die beiden Männer standen ganz plötzlich nicht mehr im Brennpunkt des Geschehens. Die Blicke der Krieger gingen an ihnen vorbei.
Wohin?
Zamorra drehte den Kopf zur Seite.
Und er sah ihn!
Er stand auf einer Treppe, die zur Spitze des Tempels führte.
Eine Gestalt wie aus dem Märchenbuch. Groß für einen Indianer, schlank und aufrecht wie eine Kerze. Das Gesicht eines Aristokraten, altersmäßig kaum abzuschätzen. Er trug ein Gewand, das so weiß war wie frischgefallener Schnee auf den Höhen des Popocatepetl. Auf dem Kopf trug er eine gewaltige Federkrone, und überall glitzerten Gold und Geschmeide.
Zamorra war nicht minder beeindruckt als die aztekischen Krieger.
Der Mann auf der Treppe sprach zu den Kriegern. Seine Stimme war voll und wohltönend. Und sie hatte etwas merkwürdig Zwingendes an sich.
Unruhe entstand unter den Belagerern.
»Was sagt er?«, flüsterte der Professor.
Tizoc Pizana ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er antwortete. Ganz offensichtlich war er verblüfft.
»Er sagt, sein Herr, der mächtige Quetzalcoatl, will nicht, dass uns ein Leid geschieht. Er fordert die Krieger auf, sich zurückzuziehen.«
Das war in der Tat eine Überraschung, eine äußerst angenehme Überraschung sogar. Nur bezweifelte Zamorra stark, dass die Soldaten der Aufforderung auch Folge leisten würden.
Der Mann in Weiß, dem Anschein nach ein Priester des Gottes Quetzalcoatl, sprach weiter. Eindringlicher und bestimmter noch als zuvor.
»Er sagt, wir stehen unter dem Schutz seines Herrn. Und er rät ihnen, seinen Zorn zu fürchten«, erläuterte der Indianer.
Erstaunlicherweise erzielten seine Worte tatsächlich Wirkung. Die Krieger wollten den Priester und seinen Gott offenbar nicht herausfordern. Sie wichen zurück. Und in vielen Gesichtern zeigten sich Anzeichen von Bestürzung.
Dann geriet der Rückzug ins Stocken.
Zwei Männer traten aus den Reihen hervor. Es waren keine Krieger. Die Jaguarfelle, die sie trugen, gaben ihren Stand bekannt.
Jünger des schrecklichen Tezcatlipoca!
Sie stellten sich vor die Krieger hin und redeten ebenfalls auf sie ein. Wild gestikulierend und mit schrillen, befehlenden Stimmen.
Pizana übersetzte: »Die Knechte des Schrecklichen sagen, die Krieger sollen nicht auf den alten Schwätzer hören. Tezcatlipoca sei der Herr, und sie seien seine Propheten.«
Dieser Satz kam Zamorra bekannt vor, allerdings in einem anderen Zusammenhang.
Die beiden Jaguarmänner untermauerten ihre Worte, indem sie gestenreich zum Himmel wiesen. In die Richtung, in der die Sterne des Großen Bären – des Jaguar – leuchteten.
Der Priester des Quetzalcoatl griff wieder ein. Auch er zeigte zum Himmelszelt empor. Zur Venus.
Der Professor erinnerte sich, dass der Abend- und Morgenstern ein Symbol der Grünfederschlange war, wie Quetzalcoatl in der Übersetzung hieß.
Die Krieger waren hin- und hergerissen, wussten offenbar nicht, welchem der beiden streitenden Götter sie gehorchen sollten.
Zamorra überlegte kurz, ob sie das Geplänkel zu einem Blitzstart nutzen sollten. Er entschied dann aber dagegen. Tizoc machte jetzt doch einen ziemlich geschwächten Eindruck. Und auch er selbst hatte schon Momente gehabt, in denen er weitaus frischer gewesen war. Außerdem mochte ein Fluchtversuch den Ausschlag für die Soldaten geben, sich auf die Seite Tezcatlipocas zu stellen. Wenn Menschen, die unter dem Schutz eines Gottes standen, furchtsam davonliefen, dann konnte es mit dem Schutz nicht weit her sein.
Die Diskussion hatte sich inzwischen zugespitzt. Die Priester sprachen nicht mehr zu den Kriegern, sondern redeten unmittelbar miteinander.
Es war eine alles andere als freundliche Unterredung.
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