0069 - Das Gericht der Toten
Bill würden es schwer haben, den Beweis anzutreten, daß sie aus lauteren Motiven auf das Gelände des Millionärs vorgedrungen waren. Niemand würde ihnen glauben, daß es ihr Ziel gewesen war, eine Macht aus einer anderen Welt zu bannen.
Und diese Macht war noch immer gegenwärtig!
Was konnte sie tun? Was konnte sie nur tun?
Zuerst mußte sie versuchen, Bill und den Chef gegen Kaution freizubekommen. Zamorra war kein armer Mann, und sie besaß Bankvollmacht. Dumm war nur, daß sie niemanden in New York kannte, der ihr behilflich sein konnte. Wohl oder übel würde ihr wohl nichts anders übrigbleiben, als willkürlich einen Rechtsanwalt aus dem Telefonbuch herauszusuchen.
Langsam ging sie die Straße entlang, um zum Wagen Bills zurückzukehren. Hier an Ort und Stelle konnte sie nichts mehr ausrichten.
Oder doch?
Sie verhielt ihren Schritt, als plötzlich eine Taxe in die Straße einbog und vor der Villa Seymours stehenblieb. Ein Mann im weißen Gewand der Inder stieg aus.
Nicole schaltete schnell. Dieser Mann konnte eigentlich nur der Guru sein, den Bill nach seinem letzten vergeblichen Telefonat mit dem Millionär erwähnt hatte. Mit einem Satz überquerte sie den niedrigen Jägerzaun, der den Vorgarten der Villa einzäumte, vor dem sie gerade stand. Sie duckte sich hinter einen Strauch und blickte angestrengt zu Seymours Anwesen hinüber.
Der Weißgekleidete war stehengeblieben, das Gesicht der Straße zugewandt. Nicole hatte den Eindruck, daß er genau auf den Busch starrte, hinter dem sie sich verborgen hielt. Aber er konnte sie kaum sehen, denn das Blattwerk war dicht genug, um perfekten Schutz zu gewährleisten.
Der Ankömmling schien dies schließlich einzusehen. Er wandte sich um und ging auf den Hauseingang zu, in dem er kurz darauf dann auch verschwand.
Ein neuer böser Verdacht regte sich in der Französin. Ob der Inder gekommen war, um das zu tun, was der Chef unbedingt verhindern wollte? Eine andere Möglichkeit kam wohl kaum in Betracht.
Als wenig später erneut die Lichter im Garten der Millionärsvilla aufflammten, hielt sie den Atem an.
Was würde jetzt geschehen?
Mit klopfendem Herzen wartete Nicole ab. Sie wäre am liebsten zur Villa Seymours hinübergestürmt, aber sie wußte, daß dies keinen Zweck hatte, Sie würde doch nichts ausrichten können.
Die Minuten vergingen, dehnten sich zu Viertelstunden. Nicole wußte nicht genau, auf was sie eigentlich wartete, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß etwas geschehen würde.
Und dann geschah es auch.
Ein furchtbarer Donnerschlag zerfetzte die Stille der Nacht. Der Erdboden zu ihren Füßen zitterte, so gewaltig war die Erschütterung dort drüben gewesen.
Danach trat wieder tiefe Stille ein.
Diese währte allerdings nicht lange. Die Nachbarschaft war erwacht. In mehreren der weitverstreuten Häuser gingen Lichter an.
Ganz Richmond schien aufmerksam geworden zu sein.
Auch die Villa, deren Vorgarten sie als Versteck benutzte, machte in dieser Beziehung keine Ausnahme. Nicole erkannte, wie ein Fenster aufgerissen wurde und ein Frauenkopf mit wild zerzausten Haaren erschien.
Nicole hatte kein Interesse daran, aufzufallen. Womöglich brachte man sie noch mit den Geschehnissen in Verbindung, wenn sie sich hier so verdächtig auf fremden Grundstücken rumdrückte.
Sie verließ ihr Strauchversteck, trat auf den Bürgersteig hinaus.
Ob sie jetzt doch noch einen neuerlichen Versuch machen sollte, Seymour auf die Pelle zu rücken? Vielleicht hatte der Millionär inzwischen seine Ansichten geändert und war nicht mehr so abweisend wie vorhin.
Bereits halb entschlossen, dem Gedanken die Tat folgen zu lassen, setzte sie sich in Bewegung. In diesem Augenblick sah sie, wie sich die Eingangstür der Seymour’schen Villa öffnete. Der Inder trat hinaus, ging gemessenen Schritts auf das wartende Taxi zu. Er sah Nicole, stutzte ganz kurz und bedachte sie mit einem stechenden Blick.
Dann bestieg er den Wagen, der gleich darauf davonrollte.
Noch Sekunden später fühlte Nicole die Augen des Mannes auf sich ruhen, diese Augen, die sie trotz der herrschenden Lichtverhältnisse schlangenähnlich gemustert hatten.
Sie schüttelte sich und steuerte mit fester Entschlossenheit ihr neues, altes Ziel an.
***
Die Zelle im dritten Polizeirevier von Richmond war groß und kalt.
Üblicherweise diente sie wohl vor allem der Ausnüchterung von aufgegriffenen Trunkenbolden, denn außer Zamorra und Bill Fleming waren keine »gefährlichen Kriminellen«
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