0071 - Mit der letzten Kugel
mich doch auf. Jeden Sonntagvormittag muss ich das erledigen, was in der Woche liegen bleiben musste. Und…«
Er brach ab, weil Father Baseman ruhig, aber bestimmt erklärte: »Von der Seltenheit Ihrer Teilnahme an den Gottesdiensten, Mister Harway, wollen wir jetzt nicht sprechen. Sagen Sie mir jetzt, was Sie bedrückt! Lisabell ist doch nicht etwa krank?«
»Doch, aber nur harmlos. Sie hat sich eine kleine Erkältung zugezogen. Unser Hausarzt meinte, wir sollten sie zu Hause lassen.«
»Hatten Sie eine Reise vor, weil Sie sagen: Zu Hause lassen?«
»Wir fahren jedes Wochenende zum Ausspannen nach Twin Island.«
»Twin Island?«
»Ja. Das ist eine Insel, die zum Pelham Bay Park im Nordosten der Bronx gehört. Meine Frau hat von ihren Eltern dort ein Grundstück mit einem sehr hübschen Landhaus als Hochzeitsgeschenk bekommen. Wir fahren jeden Samstag hin.«
»Aber diesmal sind Sie doch wohl nicht gefahren? Oder wie kommt es, dass Sie heute, also am Sonntag, schon so früh wieder zurück sind?«
»Das ist es ja. Weil der Arzt sagte, die Seeluft könnte eine Verschlimmerung für Lisabells Erkältung bedeuten, haben wir sie zu Hause gelassen. Das Kindermädchen war ja da, die Köchin, der Gärtner und der Butler. Und der Arzt hatte versprochen, dass er alle sechs Stunden nach Lisabell sehen wollte…«
»Und jetzt hat sich der Krankheitszustand verschlimmert?«
»No. Das heißt, ich weiß es nicht. Ich will es nicht hoffen.«
»Sondern? Was macht Ihnen sonst Sorgen?«
Harway hob den Kopf. Unwille zeigte sich in seiner Miene.
»Ich hatte den Leuten extra eingeschärft, dass in unserer Abwesenheit kein Fremder ins Haus gelassen werden dürfte!«, sagte er aufgebracht. »Aber unsere Köchin ist ja so vertrauensselig wie kein Mensch sonst. Gestern früh kam ein Mann in einem blauen Overall, kurz nachdem meine Frau und ich nach Twin Island abgefahren waren. Et gab sich als Beamter des E-Werkes aus und sagte, er habe sämtliche elektrischen Anschlüsse und Leitungen zu prüfen. Vertrauensvoll führte man ihn durch sämtliche Räume. Die Köchin sagte, er hätte sich sogar einzelne Skizzen von den Räumen gemacht…«
Harway schwieg einen Augenblick, dann fuhr er mit unterdrückter Wut fort: »Nachts um elf erschien der Mann wieder im Haus. Kein Mensch weiß, wie er hereingekommen ist. Jedenfalls stand er plötzlich im Kinderzimmer, wo unser Kindermädchen auch schläft, solange Lisabell noch krank ist. Das Kindermädchen kann sich nur noch daran erinnern, dass sie plötzlich etwas Hartes auf den Kopf traf, und da muss sie bewusstlos geworden sein…«
Father Baseman hatte gespannt zugehört. Jetzt fragte er dringend: »Und Lisabell? Ihre Tochter?«
Harway unterdrückte einen neuen Tränenausbruch. Mit einer Stimme, die man nur mühsam vernehmen konnte, krächzte er mit sich nervös reibenden Fingern zu Father Baseman hin.
»Lisabell ist entführt worden. Von Kidnappern. Von Leuten, die sich nicht einmal etwas daraus machen, dass Lisabell erst drei Jahre alt ist. Stellen Sie sich das vor, Father: Lisabell ist entführt… ist in der Hand von Kidnappern! Oh, guter Gott, was soll ich nur tun?«
***
Es war zwanzig Minuten vor acht Uhr früh, als bei mir das Telefon klingelte. Ich warf mich wütend auf die andere Seite und fluchte im Stillen über die Rücksichtslosigkeit, einen G-man um diese Zeit anzurufen. Ich hatte mich an diesem Sonntag einmal gründlich ausschlafen wollen, wozu man bei unserem Beruf wirklich nur allzu selten kommt, und jetzt bimmelte mich irgendein verrückter Frühaufsteher an!
Zuerst hatte ich mir felsenfest vorgenommen, nicht an den Apparat zu gehen. Aber da das Klingeln nicht aufhörte und mich sowieso an einem erfolgreichen Weiterschlafen hinderte, kroch ich schließlich doch knurrend aus meinem warmen Bett, schlurfte barfuß ins Wohnzimmer und nahm den Hörer.
»Cotton«, sagte ich. Und meine Stimme klang, so, dass jeder Anrufer eigentlich sofort den Hörer hätte auflegen müssen.
»Guten Morgen, Agent Cotton«, sagte eine Stimme, die mir bekannt vorkam. »Hier spricht Father Baseman von der San Sebastian Cathedral. Ich habe Sie vor vierzehn Tagen zufällig kennengelernt, als wir die Formalitäten für die Beerdigung eines Ihrer zu Tode gekommenen Kollegen zu besprechen hatten. Sie erinnern sich?«
Langsam wurde ich wach, und damit kam auch mein Erinnerungsvermögen zurück. Ich sah vor meinem geistigen Auge jenen alten Priester, mit dem ich im Auftrag unserer
Weitere Kostenlose Bücher