0079 - Der Tyrann von Venedig
Signor Suko unterstützt Sie im Auftrag von Scotland Yard, und Signorina Shao ist seine charmante Begleiterin.«
Die übrigen Reiseteilnehmer brachen auf. Joe Tarrant gab uns einen Wink.
»Mein Sohn Antonio ist seit vier Wochen verschwunden, Signor Sinclair«, sagte Gloria Gianelli gehetzt. »Sie müssen mir helfen! Ich weiß, daß er noch lebt! Ich weiß auch, was mit ihm geschehen ist!«
»Herrschaften, die Gondeln warten!« Joe Tarrant kam strahlend an unseren Tisch. Zwei blasse Mädchen, vermutlich Schwestern, die Haare hochgesteckt, standen am Ausgang des Speisesaals und kicherten. Ein älteres Ehepaar erhob sich und schloß sich den anderen an.
»Wir kommen«, sagte ich zu Tarrant und schenkte ihm einen unfreundlichen Blick. Daraufhin zog er sich zurück. »Geht schon vor«, riet ich meinen Freunden. »Haltet Tarrant hin.«
Suko und Shao schlossen sich dem Reiseleiter an, während Jane noch zögerte. Sie warf mir und der attraktiven Frau an meiner Seite einen mißtrauischen Blick zu, merkte aber dann doch, daß ich nicht in der richtigen Stimmung für einen heißen Flirt war.
Sie schloß sich Suko und seiner Freundin an.
»Was ist mit Ihrem Sohn geschehen?« fragte ich knapp. Wir mußten uns beeilen, weil ich unbedingt die Gondelfahrt mitmachen wollte.
»Antonio ist neunzehn, so groß wie ich und sieht mir zum Verwechseln ähnlich. Wir haben uns letztes Jahr zum Karneval den Spaß gemacht, daß ich mich als Mann verkleidete. Unsere Freunde hielten mich für Antonio.«
»Gut, dann kann ich ihn erkennen.« Ich wurde nervös. »Weiter!«
»Sie haben schon von dem Schwarzen Dogen gehört?« Sie sah mich fragend an. Ich merkte, welch ungeheure Anstrengung es sie kostete, sich zu beherrschen. »Und Sie wissen von der Nachricht, die über die venezianische Polizei an Scotland Yard geschickt wurde?«
»Die verstümmelte Botschaft?« fragte ich überrascht. »Stammt sie von Ihrem Sohn?«
Signora Gianelli nickte. »Ich habe seine Handschrift erkannt. Helfen Sie! Befreien Sie meinen Jungen!«
Ich ergriff ihre Hand. Sie war eiskalt und bebte. »Ich werde tun, was ich nur kann«, versprach ich.
»Signore…« Sie rang um Fassung.
»Mr. Sinclair, kommen Sie, wir alle warten nur noch auf Sie!« rief Joe Tarrant von der Tür her.
»Ich komme!« Rasch stand ich auf, nickte der schönen Frau zu und lief zum Ausgang.
Vor dem Hotel waren einige blau gestrichene Pfähle in den Grund des Canal Grande gerammt. Daran vertäut schaukelten fünf Gondeln. Jane, Suko und Shao hatten eine bereits besetzt und hielten mir einen Platz frei. Der Gondoliere streckte die Hand aus und half mir in das schwankende Boot. Ich ließ mich neben Jane auf die Bank sinken.
»Sie hat einen großen Eindruck auf dich gemacht.« Meine Freundin lächelte versöhnlich. »Wirst du ihr helfen?«
Seufzend blickte ich über das Wasser zu den Palästen, die in ein geheimnisvolles Dunkel getaucht waren. »Ich habe keine Ahnung, ob ich es kann. Wer weiß, ob ihr Sohn überhaupt noch lebt.«
»So pessimistisch?« Suko grinste unternehmungslustig. »Das kenne ich gar nicht an dir.«
Mein Blick bohrte sich in das fast schwarze Wasser des Canale. Der Schwarze Doge konnte hier überall lauern, in einem der unzähligen Häuser oder Palazzi oder in einem der Kanäle. Es war schwierig genug, den Schwarzen Dogen aufzuspüren. Wie viel schwieriger mußte es sein, einen jungen Mann zu finden, den der Dämon entführt hatte falls der Schwarze Doge überhaupt etwas mit Antonio Gianellis Verschwinden zu tun hatte.
Ich ahnte nicht, wie nahe mir dieser junge Mann bereits war.
Gefährlich nahe!
***
In den nächsten zehn Minuten bekam ich mehr ›Ohs‹ und ›Ahs‹ zu hören als jemals zuvor in meinem Leben. Ich war nicht zum ersten Mal in Venedig, und die gespannte Lage in der Stadt schlug sich mir auf den Magen. Trotzdem konnte auch ich mich nicht dem Zauber entziehen, den die märchenhafte Kulisse ausübte.
Es war ein harmloser Zauber im Vergleich zu den Aktivitäten des Schwarzen Todes und seines Helfers, des Schwarzen Dogen.
Die Gondeln glitten an der erleuchteten Kirche Maria della Salute vorbei und erreichten das offene Wasser an jener Stelle, an der der Canale della Guidecca sich mit dem Canal Grande vereinigt. Der Markusplatz öffnete sich vor uns mit dem Dogenpalast, dem Markusdom und einem Lichtermeer, das von den zahlreichen Laternen und den erleuchteten Verkaufsständen der Andenkenhändler ausströmte. Stimmengewirr und Geigenklänge schlugen
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