007b - Duell mit den Ratten
muß ich Ihnen Ihren Willen lassen – wenn auch unter Protest.« Ihre Stimme klang noch kalt und ablehnend, im nächsten Moment war sie jedoch wieder sanft und zuvorkommend, wenngleich ein spöttischer Unterton mitschwang. »Ich habe geahnt, daß Sie hartnäckig sein würden und vernünftigen Argumenten nicht zugänglich. Deshalb habe ich angeordnet, daß man Ihren Sohn vorführt. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich keine Verantwortung für die Folgen übernehme.«
»Welche Folgen sollte das haben, wenn ein Junge mit seinen Eltern zusammentrifft?« fragte Mrs. Blair irritiert.
Mrs. Reuchlin wurde einer Antwort enthoben, da es an der Tür klopfte. Sie sagte: »Das wird bereits Joey sein. Herein!«
Die Tür wurde zaghaft geöffnet, und ein etwa zwölfjähriger Junge erschien. Er war bis auf die Knochen abgemagert. Seine Augen, stumpf und blicklos, lagen tief in den Höhlen; seine schmalen Lippen waren blutleer, und die Haut war so blaß, als wäre noch nie ein Sonnenstrahl auf sie gefallen.
»Joey!« rief Mrs. Blair entsetzt und preßte die Hand gegen den Mund. Das war nicht ihr Junge, den sie vor sechs Wochen in dieses Internat geschickt hatte. Er war ein Gespenst, ein Schatten seiner selbst.
Auch in Mr. Blairs Gesicht zuckte es. Er konnte die Augen nicht von dem Jungen lassen, der sein Sohn sein sollte.
Joey machte eine artige Verbeugung, schloß umständlich die Tür und trat dann ins Büro. Er ging zuerst zu seiner Mutter, die zu keiner Bewegung fähig war, sagte: »Tag, Mutter« und drückte ihr mit eiskalten Lippen einen Kuß auf die Wange; dann wandte er sich seinem Vater zu, küßte auch ihn flüchtig auf die Wange und begrüßte ihn mit: »Tag, Vater.«
Als er sich wieder zurückziehen wollte, hielt ihn Mr. Blair an den Armen zurück. Es krampfte ihm das Herz zusammen, als er die knochigen, dünnen Ärmchen durch den Stoff spürte.
»Joey!« sagte er mit krächzender Stimme und hörte, wie seine Frau im Rücken des Jungen aufschluchzte.
»Ja?« fragte Joey ausdruckslos und blickte durch Mr. Blair hindurch.
»O Joey!« entfuhr es Mr. Blair plötzlich. Impulsiv preßte er seinen Sohn an sich. »Was haben sie nur mit dir getan?«
»Was hat wer mit mir getan?« fragte Joey so unbeteiligt, als ginge ihn das alles nichts an.
»Erkennst du uns denn nicht, Joey?« fragte Mr. Blair. »Ich bin es, Armand, dein Vater. Und dort, das ist deine Mutter. Weißt du denn nicht mehr, wer wir sind? Freust du dich denn nicht, daß wir hier sind?«
»Ja. Doch, Vater«, sagte Joey tonlos. »Ich freue mich, daß ihr gekommen seid. Aber ihr hättet bis zum Wochenende warten sollen. Es geht nicht, daß ihr einfach die Hausordnung stört.«
Mr. Blair starrte den Jungen fassungslos an. Das war nicht sein Sohn. Das war nicht der fröhliche Joey, der Quecksilber im Blut zu haben schien und in dessen Augen der Schalk saß. Das war … »Es ist vielleicht besser, wenn ich Sie allein lasse«, ließ sich Mrs. Reuchlin hören und erhob sich von ihrem Platz. »Sie haben fünfzehn Minuten.«
»O nein!« Mr. Blair sprang hoch, stellte sich ihr in den Weg und starrte wütend zu ihr auf. »Sie können sich nicht so einfach aus dem Staub machen. Ich verlange von Ihnen einige Erklärungen. Sehen Sie nur, was aus Joey geworden ist! Ich möchte wissen, was Sie mit ihm gemacht haben.«
Mrs. Reuchlin warf dem Jungen einen oberflächlichen Blick zu. »Es besteht kein Grund zur Aufregung, Mr. Blair«, sagte sie distanziert. »Joey war krank. Nichts Ernsthaftes. Er befindet sich bereits auf dem Weg der Besserung. Wenn Sie am Sonntag gekommen wären, hätten Sie ihn wohlauf vorgefunden. Es tut mir leid …«
»Es wird Ihnen noch viel mehr leid tun, wenn ich die Zustände in Ihrem Internat an die Öffentlichkeit bringe«, rief Mr. Blair mit sich überschlagender Stimme. »Ich werde Ihnen das Handwerk legen. Darauf können Sie Gift nehmen. Das ist ja schlimmer als in einem mittelalterlichen Gefängnis. Sie bringen Ihren Zöglingen wohl noch durch Prügel und bei Wasser und Brot Disziplin bei? Bei Gott, ich werde diesen Skandal aufdecken!«
Mrs. Reuchlin begann bei Blairs letzten Worten am ganzen Körper zu zittern. »Überlegen Sie sich gut, was Sie sagen!« warnte sie. »Ihre Beschuldigungen sind vollkommen aus der Luft gegriffen.«
»Das habe ich anfangs auch geglaubt«, erwiderte Blair. »Ich hielt alles nur für das Hirngespinst eines hysterischen Weibes und dachte, daß es sich um die Verleumdung einer rachsüchtigen
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