0093 - Vlado - der Schreckliche
im Sarg festnagelt.«
»Erkennst du’s denn wirklich nicht, Chef?«, fragte Nicole verwundert.
Zamorra wandte sich seiner Sekretärin zu. Er zog nicht das intelligenteste Gesicht dabei. Trotz der Patsche, in der sie saßen, leistete sich Nicole ein schwaches Lächeln. Doch sie genoss ihren Triumph nicht wirklich. Er war ein mitfühlendes Lächeln, das sie aufgesetzt hatte.
»So geht es vielen Spezialisten«, begann sie. »Vor lauter Bäumen sehen sie den Wald nicht mehr. Du suchst vermutlich nach irgend etwas furchtbar Kompliziertem. Dabei ist alles so einfach. Denk mal an ein Horoskop und schau dir dann das Zeichen in der Mitte des Deckels noch mal an.«
Es war bezeichnend für Nicole, dass sie ihren Chef selbst hinter das Geheimnis kommen lassen wollte. Das stärkte sein inzwischen angeknackstes Selbstvertrauen, und dieser Umstand wiederum konnte letzten Endes ihr nun wieder zugute kommen.
»Horoskop?«, murmelte Zamorra rätselnd und dachte automatisch an die astrologische Symbolik. ›MC‹ für medium coeli, ein Kreis mit einem nach rechts oben weisenden Pfeil für den Planeten Mars. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
»Das Sonnenzeichen!«, entfuhr es ihm. »Natürlich! Ich muss tatsächlich blind gewesen sein. Ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte steht für Sonne. Dabei fällt mir ein - hat der Tscheche nicht auch etwas von der Sonne gesagt?«
»Hat er«, bestätigte Nicole und war stolz auf ihren Chef.
»Dann wird mir einiges klar«, resümierte Professor Zamorra. »Vlado wurde der Leichenfürst genannt. Vielleicht war er ein Ghul. Ich werde mir immer sicherer. Er kann nur ein Ghul gewesen sein, oder er ist nach seinem irdischen Tod einer geworden. Und Ghuls können nur nachts existieren«, fuhr Zamorra fort. »Da sind sie beinahe unbesiegbar, wenn man nicht den speziellen Zauber kennt, der sie zu solchen Wesen gemacht hat. Doch am Tage braucht nur die Sonne sie zu treffen, und sie vergehen, werden ausgelöscht, und nichts bleibt von ihnen.«
Zamorra sah auf seine Uhr.
»Schon fast sechs Uhr abends. Heute können wir nichts mehr unternehmen. Draußen müsste es schon dunkel geworden sein. Und morgen müssen wir es irgendwie schaffen, diesen Sarkophag ins Freie zu zerren.«
Nicole schaute betreten zu Boden. Zamorras plötzliche Begeisterung steckte sie nicht an. Sie dachte an die Männer des tschechischen Staatssicherheitsdienstes, die vermutlich immer noch Jagd auf sie machten.
»Hoffentlich schaffen wir’s«, sagte sie trotzdem. »Und was ist mit den anderen?«
Zamorra hatte nicht mehr an die anderen offenen Sarkophage ge dacht.
»Sie sind untergeordnete Ghuls, nehme ich an«, meinte er. »Sie werden vergehen, sobald es ihren, Herrn nicht mehr gibt. Im Grunde genommen sind sie alle zusammen nur eine Wesenheit. Vlado ist Hand und Daumen. Sie sind seine Finger. Hackt man die Hand ab, sind auch die Finger tot. Wir gehen weiter. Nur der Teufel weiß, wann Vlado und seine Horde zu ihrem falschen Leben erwachen. Komm jetzt, Nicole. Wir werden irgendwo draußen die Nacht abwarten.«
»Draußen? Glaubst du, wir finden einen Ausgang?«
»In diesem Fall kann das Amulett uns wieder weiterhelfen.« Zamorra behielt das magische Silber um seinen Hals, hob es nur hoch an seine Stirn und schloss die Augen. Sekunden verharrte er wie in Trance. Als würde er einer inneren Stimme lauschen.
»Kein Problem mehr, Nicole. Ich weiß jetzt, wie wir nach oben kommen. Wir befinden uns direkt unter der alten Ruine. Vielleicht sechs Stockwerke tief. Es gibt eine Wendeltreppe nach oben.«
Professor Zamorra machte sich auf den Weg.
Da war tatsächlich eine Wendeltreppe. Sie endete unter dem Söller. Einige Mühen kostete es noch, die Falltür hochzustemmen. Doch dann atmeten sie die frische kalte Luft der beginnenden Nacht. Es herrschte nur mehr leichtes Dämmerlicht, als sie abgekämpft ins Freie traten.
Mitten auf dem Burghof überraschte sie die Garbe aus einer Maschinenpistole. Vor ihren Füßen warfen die Kugeln Dreckfontänen hoch.
***
Karel Capek und seine Männer erreichten die Gruft mit den Sarkophagen, kurz nachdem Zamorra und Nicole sie verlassen hatten.
Neugierig war der Leutnant des Staatssicherheitsdienstes inzwischen nicht mehr. Der Aufenthalt in der Grotte der Gerippe hatte ihn nachhaltig kuriert. Sein Bedarf an Widernatürlichem war bis zu seinem Lebensende mehr als gedeckt.
Er durchquerte die Gruft mit langen Schritten, sah einen Bogengang und die Steinstufen dahinter, die allem
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