01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
machen.
»Alle Achtung, Master Fry. Neunzehneinhalb von zwanzig Punkten! Ganz schön clever, wie?«
Jetzt wären leise Spottrufe und ein gedämpftes, gemeines Lachen zu hören. Rechtschreibung! Addition! Zum Wegschreien.
Nicht auszuhalten. Undenkbar. Ich konnte da nicht rein.
Ich wollte weglaufen. Nicht nach Hause. Einfach nur fort von hier. Immer nur laufen und laufen und laufen. Doch selbst davor hatte ich zuviel Schiß. Verdammt. Verdammt und zugenäht. Da hatte ich mir schön was eingebrockt. Und alles nur, weil ich so folgsam gewesen war. Weil ich am höchsten aufgezeigt und so flehentlich »Hier, Miss, ich, Miss! Bitte, Miss!« gequäkt hatte.
Wie ungerecht, die ganze Welt war ungerecht. Da hockte Stephen Fry im Umkleideraum einer Dorfschule in Norfolk und wünschte sich, jemand ganz anderes zu sein und in einem anderen Land, zu einer anderen Zeit und in einer anderen Welt zu leben.
Ich blickte auf Miss Meddlars Blatt hinab. Mein Name am oberen Rand verschmolz in einem salzigen Rinnsal mit dem von Darren Wright darunter. Darren Wright hatte vierzehn von zwanzig Punkten. Vierzehn war ein viel vernünftigeres Ergebnis. Damit mußte man sich nicht schämen. Warum hatte ich nicht die vierzehn Punkte?
Ich zerknüllte das Blatt und steckte es in einen Gummistiefel. Er gehörte Mary Hench, wie in Druckschrift auf einem Streifen Tesaplast auf der Innenseite zu lesen war. Mary Hench war meine Freundin und würde mich hoffentlich nicht verraten, wenn sie das Knäuel entdeckte.
Ich stand auf und wischte mir die Nase. Was für ein Schlamassel.
Während der nächsten zehn Jahre, des längsten Jahrzehnts meines Lebens, fand ich mich viele, viele Male allein in Umkleideräumen wieder. Mein damaliger Besuch war harmlos und kindlich naiv, während die späteren voller Durchtriebenheit und Heimtücke steckten. Bis heute erzittert mein Herz beim Betreten öffentlicher Umkleideräume unter den wuchtigen Hammerschlägen der Schuld. Unzählige Male noch sollte der Wunsch wiederkehren, nicht mehr Stephen Fry, sondern jemand ganz anderes zu sein, in einem anderen Land und zu einer anderen Zeit.
Kaum hatte ich jene Ur-Umkleide, jenen prägenden Prototypen aller zukünftigen Umkleideräume verlassen und war zitternd auf meinen Platz in Miss Meddlars Klasse zurückgekehrt, als es zur Pause klingelte.
Wie immer gesellte ich mich zu Mary Hench und den anderen Mädchen an den Rand des Schulhofs, wo das Himmel-und-Hölle-Feld aufgemalt war. Mary Hench gehörte zu den größten Mädchen der Klasse, hatte sanfte braune Augen und ein süßes Lispeln. Unsere Lieblingsbeschäftigung bestand darin, Tennisbälle gegen die Schulmauer zu werfen und uns über die idiotischen Jungen auszulassen, während wir ihnen beim Fußballspiel oder ihren Raufereien mitten auf dem Schulhof zusahen. Saublöd, sagte Mary Hench immer. Bei ihr waren alle Jungen saublöd. Manchmal war auch ich saublöd, aber meistens nur blöd, was eine Spur besser war. Marys Freundin hieß Mabel Tucker, meine Banknachbarin in Miss Meddlars Klasse. Mabel Tucker trug eine Kassengestellbrille und wurde von mir nur Table Mucker genannt, was sie aufden Tod haßte. Wenn ich im Unterricht einen fahren ließ, brüllte sie es sofort laut in die Klasse, was ich wiederum ganz und gar unsportlich fand.
»Entschuldigung, Miss. Stephen Fry hat gefurzt.«
Zimtzicke. Blöde Kuh. Man durfte heimlich und begeistert kichern oder sich den Pullover über die Nase ziehen, aber einen Erwachsenen auf den Vorfall aufmerksam zu machen war so ziemlich das allerletzte. Außerdem war ich mir gar nicht sicher, ob die Erwachsenen überhaupt wußten, was ein Furz war.
Kurz vor Ende der Pause erblickte ich aus den Augenwinkeln, wie Miss Meddlar über den Schulhof spähte. Ich versuchte mich hinter Mary Hench, die größer als ich war, zu verstecken, doch sie sagte nur, ich solle mich nicht so saublöd anstellen, und schubste mich weg.
»Stephen Fry«, rief Miss Meddlar.
»Ja, Miss?«
»Mr. Kett sagt, du hättest kein Blatt bei ihm abgegeben.«
Jungen und Mädchen drängelten sich an mir vorbei zurück in die Klassen.
»Nein, Miss. Stimmt, Miss. Er war nicht in seiner Klasse. Wahrscheinlich war er kurz weggegangen. Ich habe das Blatt auf seinen Schreibtisch gelegt«, log ich im Ton gänzlicher Unbekümmertheit.
»Aha, ich verstehe.« Miss Meddlar machte einen leicht verunsicherten Eindruck, schien mir aber zu glauben.
»Wenn’s weiter nichts ist«, signalisierte ich mit hochgezogener Augenbraue
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