01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
der besonderen Mixtur, von deren tödlicher Wirkung ich überzeugt gewesen war, zu verdanken, daß ich am Leben blieb. Mittlerweile habe ich aufgehört, darüber nachzudenken, ob ich dies in meinem Unterbewußtsein wußte oder nicht. Ich bin einfach nur dankbar für mein Glück, meine unbewußte Entscheidung (wenn es denn eine war), die Wachsamkeit der Götter, die scharfen Ohren meines geliebten Bruders und das Können und die unnachgiebigen Anstrengungen der Schwestern und Ärzte des Norfolk and Norwich Hospital.
Zu Hause wurde über die ganze Geschichte kaum ein Wort verloren. Es gab auch nicht viel zu sagen. Einer der Angestellten meines Vaters, der schon in Chesham für ihn arbeitete, kam zwei Tage später auf mich zu und hielt mir die größte Standpauke meines Lebens. Der Mann war ein furchtgebietendes Kraftpaket namens Tyler, der das Aussehen eines malaiischen Feldarbeiters hatte und den ich für einen Rechtsradikalen hielt (vermutlich wegen seines Mosley-Schnauzers): Ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob er seine Aktion für psychologisch wertvoll hielt oder nicht. Der Tenor seiner Tirade jedenfalls war die Sorge, die ich meiner armen Mutter und meinem armen Vater zufügte. Hatte ich überhaupt je daran gedacht?
»Habe ich sie wirklich unglücklich gemacht?« fragte ich.
»Und wie, du nichtsnutziger Bastard«, fauchte er.
»So unglücklich, daß sie sich umbringen wollten?«
»Nein«, rief er mir hinterher, während ich das Weite suchte, »weil sie im Gegensatz zu dir viel mehr Mumm in den Knochen haben.«
Ich glaube, mein Vater ahnte, daß hinter all dem Liebe steckte, denn ich erinnere mich, daß er eines Tages zu mir insZimmer kam (eins der ganz wenigen Male in meinem Leben) und mir eine unendlich komplizierte Geschichte über den Besuch einer Tarot-Leserin erzählte, die ihm erklärt hatte, ich sei unglücklich verliebt. Ich glaube, dies war seine diskrete Art, Bereitschaft für alles zu signalisieren, was ich ihm zu sagen hatte. Nur hatte ich ihm nichts zu sagen. Vielleicht habe ich diese Erinnerung auch nur erfunden. Tarot und mein Vater passen einfach nicht zusammen.
Ich mag gar nicht daran denken, was das viele Brüllen, Schreien und Schluchzen meiner armen Schwester Jo angetan haben müssen. Wir sprechen nur selten über diese Zeit, und wenn, dann mit reumütigem Lächeln und hochgezogenen Brauen. Wie dankbar müssen meine Eltern gewesen sein, als ich mein letztes Semester in Lynn antrat, in dem ich meine A-Levels absolvieren würde. Allein dankbar dafür, mich nicht mehr bei sich haben zu müssen, da sie genau wußten, daß meine Rückkehr nach Hause gänzlich fruchtlos war. Und sie wußten auch, daß ich das Ende der Fahnenstange erreicht hatte.
Zwischen Dreikartenpoker im Woolpack, Flipperspielen in der Studentenvertretung, den Paradox-Parties, Kathleen und meinem privaten Elend hatte ich jeglichen Anschein von Lernen aufgegeben. Gegen Ende meines zweiten Jahres war für mich wie für jeden anderen klar, daß ich mit Pauken und Trompeten in allen Fächern durchrasseln würde. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an meinen damaligen Geisteszustand erinnern und ihn mit der gleichen Deutlichkeit heraufbeschwören, wie ich mich an meine früheren Gefühle erinnere, die zu dem kläglichen Selbstmordversuch führten. Sehr wohl erinnern kann ich mich an Kathleen und die Corvo-Truppe, an Phil und Dale und unser Kartenspielen und an meine Arbeit für den Film-Club. Ebenso erinnere ich mich an Studentenfeten, auf denen ich zu Slade und Elton John zu tanzen versuchte. Und ich erinnere mich an ein Konzert der damals noch unbekannten Band Judas Priest. Schließlich erinnere ich mich noch an meine wenigen Schauspielversuche.
Der größte Ansporn zum Lernen kam zu der Zeit seltsamerweise ausgerechnet von der Kunstgeschichte. Insbesondere die Architektur hatte es mir angetan, die Baukunst der Griechen, die Gotik, Michelangelo, danach English House, die Neugotik und die Viktorianer. Meine Bibel war Bannister Fletcher, mein Hausgott Inigo Jones. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich nicht einmal mehr sagen kann, was wir in Englisch und Französisch lasen. Augenblick mal ... in Französisch war es ein zweites Mal Anouilhs Antigone . Tja, und das war dann auch schon die gesamte Erinnerungsausbeute meines zweiten Jahrs in King’s Lynn.
Schließlich versuchte ich die A-Level-Prüfungen – das heißt, ein Großteil von ihnen. Lediglich die Abschlußtests in Französisch und Englisch verkniff
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