01 Das Haus in der Rothschildallee
sollten uns nicht aufregen. Mit vierzehn wollte ich noch Staatsanwalt werden.«
»Ausgerechnet! Und was hat dich davon abgebracht?«
»Dass mein Vater immer gesagt hat, Juden nehmen die nicht.«
Die Zwillinge machten noch keine Zukunftspläne. Ihren Hang zu Capricen, dass sie frech wie Gossenkinder werden konnten, wenn man sie reizte, und dass sie allenfalls Respekt vor dem Vater und ihrem großen Bruder hatten, sah man ihnen nicht auf Anhieb an. Zumindest auf den ersten Blick sahen sie wie die munteren kleinen Engel auf den Postkarten aus, die besonders beliebt zur Weihnachtszeit und an Ostern waren.
Betsy sammelte solche Karten. Durch sie inspiriert, fing sie auch wieder zu zeichnen an, und sie versuchte – allerdings vergebens –, wenigstens Clara für Malerei zu interessieren. Noch mehr Zeit opferte sie, um die drei Ältesten in die von ihr so sehr geliebte Welt der Musik einzuführen. Allerdings ahnte sie schon zu einem frühen Zeitpunkt, dass sie kaum Erfolg haben würde. Trotzdem setzte sie sich jeden Tag guten Mutes an den Flügel, der so berauschende Frühlingsträume in ihre Seele geträufelt hatte.
Ein wenig lustlos blätterte die pflicht- und bildungsbewusste Mutter in den Klaviernoten für Anfänger. Sie verfluchte, als sie den ersten Ton anschlug, die Klavierlehrerin der Zwillinge. Die verwelkende Jungfer, die nie lächelte und immer nach Kampfer roch und ständig erkältet war, hatte Madame Sternberg empfohlen, jeden Tag die Lieder vorzuspielen, die Clara und Erwin für die Musikstunden einzuüben hatten. »Die können dann gar nicht anders, als ihrer Mutter nachzueifern«, hatte Fräulein Schiffer behauptet.
Betsy setzte eher auf einen Backenstreich und Stubenarrest als wirksame Mittel gegen Aufmüpfigkeit und Lernunwilligkeit, doch es widerstrebte ihr, eigenmächtig gegen den neumodischen, von Fachleuten empfohlenen pädagogischen Strom zu schwimmen. Die tendierten dazu, Kinder nicht mehr wie früher zur Musik oder zum Zeichnen zu zwingen, sondern sie behutsam in die Welt der Kunst zu geleiten. Bei Otto, Clara und Erwin war die Saat der Behutsamkeit absolut nicht aufgegangen. Musik war für das träge Trio erst interessant geworden, als ihr Vater, der keiner technischen Neuerung widerstehen konnte, ein Grammophon ins Haus gebracht hatte. Hätte seine entsetzte Gattin nicht eingegriffen und die Zeit für die Benutzung des »Teufelsdings« rigoros beschränkt, wären Familienleben und guter Geschmack im Handumdrehen Opfer der albernen Schlager geworden, die neuerdings jeder Leierkastenmann in den Hinterhöfen dudelte und die die Dienstmädchen beim Teppichklopfen trällerten.
Ohne Begeisterung spielte die entschlossene Retterin der Kultur das Lied vom treuen Paladin, das Erwin und Clara in der Klavierstunde eingeübt hatten, ehe sie krank geworden waren. Die beiden zeigten keine Spur von Erinnerungsvermögen. Ihre Mutter hörte sie im Salon kichern. Den anspornenden Rufen, mit denen sie sich gegenseitig bedachten, entnahm sie, dass sie nach wie vor mit Victorias Eisbär auf Rädern beschäftigt waren. Noch war Betsy in zu friedlicher Stimmung, um einzugreifen. Sie dachte an die Klavierlehrerin und deren Empfehlung, holte die Noten zu Engelbert Humperdincks »Hänsel und Gretel« aus der Musikkommode und fing an zu spielen.
Betsy kannte den Komponisten noch von seiner Zeit beim Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt und schätzte ihn sehr. Lächelnd, weil sie an die erste Begegnung mit ihm dachte und noch immer ihr Geheimnis gut verwahrte, spielte sie »Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?«, dann »Brüderchen und Schwesterchen« und schließlich »Der kleine Sandmann bin ich«.
Clara brüllte gellend »Hurra« und Erwin noch viel lauter »An die Gewehre, Männer«. Seufzend klappte ihre Mutter den Flügel zu und hetzte ahnungsvoll zum Kriegsschauplatz. Einige Sekunden verharrte sie erstarrt am Rundbogen, der das Esszimmer mit dem Salon verband. Sie musste sich mit aller Kraft bezwingen, ihre Kinder nicht wie einen nassen Sack durchzuschütteln und ihre Köpfe aneinanderzuschlagen. Die kleinen Teufel mit den Engelsgesichtern hatten dem horrend teuren Eisbären der Firma Steiff – ein Geschenk von Tante Luise, die in Victoria vernarrt war – mit Wasserfarben einen schwarz-weiß-roten Sattel aufgemalt und ihm aus der Goldborte von der Samtgardine Halsband, Zaumzeug und Leine geschnitten. Die Borte, eine exquisite Handarbeit aus der Provence, war derzeit eines der kostbarsten Stücke,
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