01 Das Haus in der Rothschildallee
das in der Sternberg’schen Posamenterie angeboten wurde. Die gerade erst mit mühevollem Aufwand gereinigte Gardine hatte ein Loch in Einmeterhöhe und einen zerfetzten Saum.
Clara begriff vor ihrem Bruder, dass die Stunde der Abrechnung gekommen war. Sie knickste ungeschickt und sagte näselnd: »Pardon.« Wort und Aussprache waren die letzte Erinnerung an das kultivierte französische Kinderfräulein, das es keine sechs Wochen bei den Sternbergs ausgehalten hatte und am Tage, da sie das Haus in der Rothschildallee für immer verließ, den Schwur tat, sie würde nie wieder bei einem Handelsmann in Stellung gehen, und bei einem deutschen schon gar nicht.
»Verschwindet, ehe ich mich vergesse«, brüllte Betsy. Auch sie gedachte gerade der Mademoiselle Antoinette. Aus der sanften, pflichtbewussten, klugen Mutter wurde eine wütende Amazone, die keinen verschonen würde, der ihr den Hausfrauenstolz raubte. Mit dem linken Fuß stampfte sie auf das empfindliche Parkett. Drohend erhob sie ihre Rechte. Ein Zorn, der keine Barmherzigkeit kannte, peitschte ihre Nerven. Madame Sternberg, für die Ausgeglichenheit erste Mutterpflicht war, vergaß erst ihre Contenance und danach ihre Erziehung. Mit aller Kraft schlug sie nach Erwin, doch als sie sich schnaufen hörte, geriet die Rächerin ins Straucheln; um ein Haar hätte sie auch ihr körperliches Gleichgewicht verloren. Allerdings krümmte Betsy ihrem Kind kein Haar. Der flinke kleine Teufelskerl hatte sich dem Schutz des Personals unterstellt und war in die Küche geflüchtet. Als seine Verfolgerin ihn dort nach einiger Zeit aufspürte, tröstete Josepha gerade ihren geliebten Hätschelbuben mit einem Stück vom feinen englischen Rumkuchen, den seine Mutter für den bevorstehenden wöchentlichen Kaffeenachmittag mit ihren Freundinnen gebacken hatte. Auf der Fensterbank kauerte Clara, ein wenig bleich, vielleicht sogar eine Spur schuldbewusst, doch augenscheinlich nicht appetitlos. Auch sie ließ sich den für den Damennachmittag bestimmten Kuchen munden – auf einem zartgrünen Dessertteller aus dem Service, das ihr Vater aus Limoges hatte kommen lassen und das nur für einen auserwählten Gästekreis benutzt werden durfte.
»Wartet nur«, drohte Betsy, doch sie merkte, dass ihr Zorn verraucht war, gab die Partie geschlagen und machte sich auf den Weg zurück in den Salon.
Die kleine Victoria saß, fast ganz von der schweren Übergardine verdeckt, auf dem Fußboden und lutschte an Claras Malkasten. Ihre Schuhe fehlten, die hellblaue Zierschürze aus Voile war zerrissen, das neue beige Samtkleid mit tintenblauer Farbe beschmiert. Otto, der sich den ganzen Nachmittag rührend um seine jüngeren Geschwister gekümmert hatte und offenbar Victoria auch mit einem seiner Zinnsoldaten hatte spielen lassen, denn ein Infanterist mit dem Gewehr im Anschlag schaute aus der Tasche ihres Kleids hervor, war nirgends zu sehen. Noch während sie sich umschaute und die barfüßige Victoria hochhob, die zu weinen begonnen hatte und nun wie eine durchnässte kleine Katze aussah, entknotete die Mutter mit geübtem Griff sämtliche Fäden der häuslichen Kalamität. Der erste Frühlingstag, dieser Rausch aus Sonne, Farbe, Erinnerung und Erwartung, hatte für sie seinen Zauber verloren. Betsy versuchte – ein probates Mittel bei Missstimmung – sich mit einem Schuss Galgenhumor zu trösten. »Du musst besser auf deinen Bruder aufpassen«, sagte sie zu der Kleinen.
»Nein«, jubelte Victoria. Es war, weil neu, ihr Lieblingswort.
Ihr großer Bruder setzte seit einiger Zeit eher auf den lautlosen Protest von Feingeistern, die das Geheimnis des Lebens ergründet haben. Bezüglich seines Nachmittagsprogramms hatte er es erst gar nicht zu den Verhandlungen mit seiner Mutter kommen lassen, die beide Parteien über die Maßen zu erschöpfen pflegten. Seit der Ankündigung, dass seine Versetzung in die Obertertia gefährdet wäre, waren nämlich seiner Freizeitgestaltung auf väterliche Anordnung hin unangenehm einengende Grenzen gesetzt worden. Gewöhnlich hielt sich Otto an die belastenden Restriktionen, obwohl er sie als eine Behandlung empfand, die eines Vierzehnjährigen unwürdig war.
Gerade am ersten Frühlingstag war ein Ausgehverbot, dessen Dauer von der mütterlichen Nachgiebigkeit und von den Hausaufgaben abhing, die der Arrestant zu erledigen hatte, dem Untertertianer Sternberg als eine Demütigung erschienen, die seine Persönlichkeit auf Dauer schädigen würde. In wechselnder
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