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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Reihenfolge hatte er sein Schicksal, seinen Vater, den Lateinlehrer samt Schuldirektor und ein Bildungsideal verflucht, das immer noch auf tote Sprachen statt auf Naturwissenschaft und moderne Technik setzte.
    Da das gestrenge Familienoberhaupt ja in Paris weilte und sich nach den Vorstellungen seines Erstgeborenen der Sünde hingab, gestattete sich Otto der Kühne mit besonderer Lust die Ausnahme von der tristen Regel. Vergnügt machte er sich klar, dass er weder ein Zauderer noch ein Feigling war, und beherzt nahm er die Chance wahr, Friedrich Schiller, dessen »Bürgschaft« er bis zum nächsten Tag auswendig zu lernen hatte, zu entfliehen. Der Deserteur verließ ohne ein erklärendes Wort das Haus und die Seinigen.
    Nur in dem Moment, da ihr die Übertölpelung bewusst wurde, zweifelte Betsy, wohin es ihn gezogen hatte. Als sie in den Spiegel blickte und erfolglos versuchte, sich Ermutigung zuzunicken, raste ihr Herz und pochte ihr Hirn. Hatte sie ein für alle Mal begriffen, dass die Geschichte, die sie gerade erlebte, zu den ältesten der Menschheit gehörte? Aus dem rührenden Knaben, der an Mutters Hand seine ersten Schritte getan und die Wunder des Lebens mit großen Kinderaugen bestaunt hatte, war ein Jüngling geworden, der jeden, der ihm zuhörte, wissen ließ, nichts Menschliches wäre ihm fremd. Der erste Bartflaum war gesprossen, die Stimme gebrochen. Das Heer der Zinnsoldaten schlummerte im Karton und kämpfte nur dann noch um Ruhm und Ehre, wenn dem jungen Herrn Sternberg zugemutet wurde, sich mit seinen Geschwistern abzugeben.
    Er trug Schuhe in Größe vierzig, und weil er sowohl in die Höhe als auch in die Breite gewachsen war, brauchte er immerfort neue Hosen. Seinen Matrosenanzug musste nun Erwin auftragen. Clara ließ die Fische aus Zelluloid schwimmen, die einst Otto in die Badewanne begleitet hatten, Victoria suckelte sich mit dem Plüschhäschen in den Schlaf, ohne das ihr ältester Bruder nicht hatte zu Bett gehen wollen. Der wünschte sich eine automatische Repetierpistole und einen Vater, der nicht so verbitternd sarkastisch war und sagte: »Ein jüdisches Kind schießt nicht mit dem Gewehr.«
    Der Vierzehnjährige interessierte sich für Rasiergarnituren, Fahrräder mit abfallendem Rahmen und Sportmützen. Er hatte die teure Dampfmaschine seiner Kindertage gegen einen billigen Muskelstärker eingetauscht, was bei der Entdeckung zu einer häuslichen Katastrophe geführt hatte. Seit dem letzten Sommer verehrte er – aus weiter Ferne – Julia von Tannenberg, die fünfzehnjährige Schwester eines Klassenkameraden, der Otto nur deshalb zu seinem Geburtstag geladen hatte, damit der ihm endlich bei Mathematikarbeiten Einblick in sein Heft gewährte. Das Fräulein von Tannenberg ritt wie eine Amazone, betrieb Bogenschießen und sprach, wenn sie es überhaupt tat, hauptsächlich von Tennis. Im Übrigen gönnte sie den Bekanntschaften ihres Bruders keinen Blick aus ihren wasserblauen Augen. Im Falle des Untertertianers Sternberg genügte ihr zur Vermeidung einer Kontaktaufnahme das Wissen, dass dieser mosaischen Glaubens war.
    Über Ottos Schreibpult hing ein Bromsilberdruck in einem weiß geriffelten Rahmen. Das Bild zeigte Kaiser Wilhelm II. mit einem seiner Enkel. Sehnte sich der heranreifende Weltmann im Schutze der Nacht nach des Lebens verborgenen Schätzen, öffnete Otto den Rahmen und holte hinter seiner Majestät Rücken französische Postkarten von äußerst dürftig bekleideten Mädchen heraus. Wären sie entdeckt worden, hätte die Hüterin des Hauses ihrem Sohn den Umgang mit weiblichen Personen vorgeworfen, die in ihrem Sprachgebrauch grundsätzlich als Luder bezeichnet wurden. Ihr Mann sprach da schon eher von »appetitlichen Frauenzimmerchen« – allerdings nur in Gesellschaft Gleichgesinnter. Darüber hinaus hatte Johann Isidor nicht die Zeit, um herauszufinden, was seinen Jungen wirklich interessierte. Das viel beschäftigte Familienoberhaupt wollte am 12. Juli seinen fünfzigsten Geburtstag angemessen feiern und tat sich unerwartet schwer bei der Auswahl der Gäste. Von Ottos nächtlicher Lektüre bekam er lediglich mit, dass dessen Zimmer häufig noch lange nach Mitternacht beleuchtet war.
    Ausschließlich zur Tarnung lagen »Der Schatz im Silbersee« und der gerade erschienene vierte Band von »Winnetou« auf Ottos Nachtschränkchen. Unter der Matratze hatte der Schüler Otto S. Schätze ganz anderer Art deponiert. Eingeschlagen in die »Frankfurter Zeitung« schlummerte

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