01 Das Haus in der Rothschildallee
ein Handbuch der Frauenheilkunde. Heini Ochsenknecht, ein Klassenkamerad mit hoch entwickeltem Sinn für das Praktische, hatte es aus der väterlichen Bibliothek gestohlen und überließ es Otto gegen eine Leihgebühr von wöchentlich zwanzig Groschen und einem täglichen Tausch der Pausenbrote. Otto bezweifelte nur allzu bald, dass er ein gutes Geschäft gemacht hatte. Er vermisste seine Leberwurstbrote, vermochte die meisten Zeichnungen in dem wissenschaftlichen Nachschlagewerk nicht zu deuten und konnte die medizinischen Fachausdrücke nicht aus dem Lateinischen übersetzen. Als ebenso enttäuschend erwies sich das zweite von Heini Ochsenknecht geliehene Buch: eine ausführliche Darstellung der Prostitution in der Antike, illustriert mit Bildern aus Pompeji und versehen mit Textproben aus Ovid, die zwar den Schülern des humanistischen Frankfurter Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums vorenthalten wurden, die für Otto aber viel zu verschlüsselt waren, um ihm zu dem Wissen zu verhelfen, nach dem es ihn verlangte. Die seltsam stockenden Andeutungen seines Vaters über Geschlechtskrankheiten und ein Referat über die gesetzliche Verpflichtung junger Männer, für außerehelich gezeugte Kinder Unterhalt zu zahlen, halfen Otto nur bedingt weiter.
Vor einem Jahr hatte er Bar-Mizwa gehabt, und somit war er nach jüdischer Lehre ein Mann. An seiner Absicht, dass er vorhatte, gerade in dieser Beziehung den Glauben der Urväter sehr ernst zu nehmen, ließ er nicht zweifeln. Gelegentlich träumte das Kind von einst zwar noch von Schlachten, Kriegen und deutschen Siegen, doch wichtiger als die Vergangenheit war dem Jüngling nun eine Zukunft, in der schöne Frauen und kernige Männerfreundschaften, die alle Fährnisse des Lebens überdauerten, die Hauptrolle spielten.
Zu Ottos Empörung wurde er auch nach seiner Einsegnung von seinen Eltern als Kind behandelt. »Mich wundert’s, dass mein Vater mir nicht noch das Denken verbietet«, beschwerte er sich bei seinem Freund. Trotzdem gelang es ihm, sich mit Geduld und Methodik einiger Fesseln zu entledigen. Zunächst gebot Otto seinen Wünschen und Träumen Mäßigung; er beschloss, die große Welt, in die es ihn zog, zu einem späteren Zeitpunkt zu erobern, seine Heimatstadt indes umgehend zu entdecken. Die Eltern, beide nicht in der Großstadt aufgewachsen, zögerten noch mehr als andere, die Zügel zu lockern. Sie waren misstrauisch und ängstlich und gaben selbst in Kleinigkeiten nicht ohne Kampf nach. Ein Vierzehnjähriger hatte in ihren Augen Gott und das Vaterland zu ehren, den Eltern zu gehorchen und seinem Glauben keine Schande zu machen. Dass Otto dann doch so viel früher als gleichaltrige Jungen seiner Gesellschaftsschicht den Weg ins Leben fand, verdankte er dem einzigen Freund, den er im Leben finden sollte.
Theodorich Rudolf Berghammer, grundsätzlich nur Theo genannt, hieß der Retter. Er war ein ungewöhnlicher junger Mann, der mit dem Selbstbewusstsein eines hellenischen Helden die Bühne betrat und ein unsichtbares Flammenschwert in der Hand hielt. Ein Blick reichte dem Ritter, um zu wissen, woran es Otto Sternberg fehlte, und flugs öffnete er das Schloss eines goldenen Käfigs, der aus sämtlichen bürgerlichen Idealen der Zeit bestand. Theo war erst sechzehn Jahre alt, doch vom Schicksal früh zum Mann geschmiedet. Er war höflich, ohne dass er untertänig wirkte, verbindlich wie ein Diplomat, selbstlos, witzig und keck. Familiensinn und Furchtlosigkeit und die Fähigkeit zum schnellen Entschluss bestimmten seinen Weg. Nie war er um eine Antwort verlegen, aber er drängte sich auch nicht ohne Grund zu Wort.
Dass dieser sympathische Junge seinen Hauswirt in einen Konflikt brachte, aus dem der keinen Ausweg fand, war absolut nicht ihm anzulasten, sondern dem Hauswirt selbst. Johann Isidor Sternberg, gewöhnlich ein Feind der Vorurteile, stets darauf aus, klug und maßvoll zu handeln, hatte absolut nichts gegen Theo, doch er mochte ihn nicht als Freund für seinen Sohn. Nie kam er länger als eine Viertelstunde gegen seine Befürchtung an, der früh selbstständige Theo verspreche sich von einer Freundschaft mit dem jüngeren und noch sehr naiven Otto entweder finanzielle Vorteile oder einen gesellschaftlichen Aufstieg.
»Volle Schüssel findet viele Freunde«, zitierte der Vater, als sein Ältester zum ersten Mal nicht pünktlich zum Nachtessen erschien.
»Wir haben uns doch immer Sorgen gemacht, dass Otto keinen richtigen Freund hat«, sagte Betsy später.
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