01 Das Haus in der Rothschildallee
anzuziehen, ohne dass es zu freizügig wirkte. Obgleich sie vier Kinder geboren hatte und die kleine Victoria erst knapp achtzehn Monate alt war, war Betsy immer noch schlank und beweglich. Einige ihrer Freundinnen fanden allerdings, Betsy schulde sowohl ihrer gesellschaftlichen Stellung als auch ihrem Alter ein wenig mehr von der Körperlichkeit, die in guten Kreisen als stattlich bezeichnet wurde. Um ihr frisches Aussehen und dass sie immer guter Stimmung war, wurde sie indes allerorten beneidet.
Vor allem wenn sie sich unbeobachtet fühlte, wirkte Betsy Sternberg so lebensfroh wie das junge Mädchen, das sie gewesen war. »Deine Schwestern«, hatte der Vater bei seinem letzten Besuch vor zwei Monaten festgestellt, »sind längst so breit wie hoch. Und auf den Stiegen schnaufen sie wie ein Biergaul. Dabei haben sie weniger Kinder als du.«
»Die Hälfte meiner vier Kinder«, hatte die Lieblingstochter des Preziosenhändlers Siegfried Strauß gelacht, »habe ich ja auf einen Streich erledigt. Zwillinge sind ein besonderer Himmelssegen.«
Bei Clara und Erwin galt das ausschließlich für die Zeit, in der sie ihre Wünsche noch nicht artikulieren konnten. Nur ihr Vater vermochte ihre Freude am Widerspruch zu zügeln. Gegen ihre Phantasie und die furchtlose Art, sich in der Welt der Erwachsenen zu behaupten, war kein pädagogisches Kraut gewachsen. Ihre Mutter wurde zur Entgegennahme von Beschwerden regelmäßig in Erwins Schule bestellt und hatte jedes Mal immense Mühe, Fräulein Hirt, die Lehrerin der vierten Klasse, zu beruhigen, die Erwin einen Satan nannte und ihm ein schlimmes Ende auf dem Gymnasium prophezeite. Nach solchen Diskussionen pflegte sich das Vorurteil von Fräulein Hirt zu festigen, dass Kinder, die an keinem Kommunionsunterricht teilgenommen hatten, meistens zur Renitenz neigten.
Clara, die schon mit sieben Jahren fließend hatte lesen können und deren Gedächtnis für Zahlen selbst ihrem kritischen Vater außergewöhnlich erschien, sollte nicht auf eines der üblichen Mädchen-Lyzeen. Sie war für die Viktoriaschule im Westend angemeldet. Das bedeutete zwar, dass die künftige Sextanerin noch lange Begleitung auf ihrem Schulweg brauchen würde, doch der Aufwand erschien den Eltern lohnend. Es gefiel ihnen sehr, dass die Viktoriaschule nach der verehrten Mutter des Kaisers benannt war. Noch wichtiger: Die Viktoriaschule wurde in jüdischen Kreisen besonders geschätzt. Bei allen Assimilationsbestrebungen der Sternbergs hätten sie nicht gern gesehen, dass ihre Clara das einzige jüdische Mädchen in der Klasse gewesen wäre.
Noch zweifelten die Eltern, ob Erwin eine ebenso schnelle Auffassungsgabe hatte wie seine Schwester. Trotzdem sollte er seinem Bruder auf das humanistische Kaiser-Friedrichs-Gymnasium folgen, das von der Rothschildallee aus zu Fuß in einer Viertelstunde zu erreichen war und als eine Lehranstalt für die Elite galt. Zu Ottos geheimem Kummer hatte sein kleiner Bruder, an dem er ausschließlich den Anker Steinbaukasten schätzte und den er für einen Dummkopf hielt, die Aufnahmeprüfung für die Sexta sehr viel besser bestanden als einst er.
Noch wurde nicht viel von der schulischen Zukunft der Zwillinge gesprochen. Vorerst interessierten sich Clara und Erwin hauptsächlich für ihren zehnten Geburtstag im April. Beide wünschten sich je einen Amur-Tiger und einen Löwen. Seit einem Jahr lebte ein prächtiges, von den Frankfurtern ehrfürchtig bestauntes Tigerpaar im Zoo, und vor zwei Jahren war der Bestand des Tiergartens um zwei Löwen aus dem Senegal bereichert worden. Selbst Otto, der sich für zu erwachsen hielt, um vor den Käfigen wilder Tiere zu stehen, kannte die Löwen. »Und dies von der Mähne bis zum Schwanz«, wie er übellaunig anzumerken pflegte. Da das »Kaiser Friedrich« dem Zoo benachbart war, hatte er auf Anordnung der pädagogischen Obrigkeit viele Unterrichtsstunden im Zoo verbracht und die Senegal-Löwen sogar zeichnen müssen. Indirekt hatte dies seinen Eltern einen ersten Hinweis auf den Berufswunsch ihres Ältesten geliefert. Zu ihrem großen Missfallen hatte Betsy nämlich ihren Otto bei seinem neuen Freund Theo spotten gehört: »Als ob ein Offizier der hessischen Gardedragoner irgendwann in seinem Leben in die Lage kommt, einen Löwen zeichnen zu müssen.«
»Keiner in meiner Familie ist je auf die Idee gekommen, Soldat zu werden«, hatte die entsetzte Mutter am Abend geklagt.
»Denkst du in meiner«, erwiderte Johann Isidor. »Aber wir
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