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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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blieben noch sechzig Tage. Bis zur letzten Stunde dieser Schonfrist dufteten die Nelken nach Zimt und Vanille, die Männertreu blühte blau in den Gärten, und am Bahndamm flaggten die Mohnblumen. Die Mädchen wollten alle aussehen wie Henny Porten und einen Mann heiraten, der sie auf starken Händen in den siebten Himmel trug. Die Lerchen jubelten, als gäbe es weder Katzen noch garstige Buben mit Steinschleudern, die Sterne strahlten auch für die Alten.
    »Im August«, erzählte Victoria ihrem Vater, »gibt es ganz viele Sternschnuppen. Wenn man eine sieht, darf man sich was wünschen, und dann bekommt man, was man sich gewünscht hat. Ich wünsch mir so viel. Schade, dass es nicht schon August ist. Die Zeit geht so langsam.«
    »Das ändert sich«, wusste der Vater, »und zwar sehr schnell. Man soll sich nie die Zukunft herbeiwünschen.«
    »Ich hab mir ja keine Zukunft gewünscht. Ich wünsche mir ein Pferd, das mit mir nach Amerika fliegt, wenn ich nicht in die Schule gehen will, und ich wünsche mir auch einen ganzen Berg von Schokoladenpflaumen in Goldpapier.«
    Wurde die Zeit, die zum Leben in Frieden verblieb, auch zum Leben genutzt? Oder ließen die Menschen die Tage verstreichen, als wären die, die da kommen würden, nicht anders als die, die gewesen waren? Noch sprachen nur die mit den Heldenträumen und Soldatenherzen, die Ahnungsvollen und Ängstlichen vom Krieg, doch selbst sie waren sich einig, dass der deutsche Kaiser ein Mann des Friedens wäre und einer, der sein Wort hielte. Hatte er seinem Volk nicht versprochen, er würde es herrlichen Zeiten entgegenführen?
    In der Rothschildallee 9 blieben Alltag und Leben so überschaubar und geregelt wie in den vierzehn Jahren seit der Hauseinweihung. Im übrigen Nordend war es ebenso. Kinder wurden geboren und jammerten beim Zahnen. Sie lernten laufen, zogen wackelnde Holzdackel hinter sich her, gingen zur Schule und aus dem Haus. Aus hübschen jungen Mädchen im blauen Flügelkleid wurden Matronen mit Haarknoten und müden Augen. Frau Minchen Berghammer, die Studienratsgattin im dritten Stock und einst so fesch, dass sich die Leute auf der Straße nach ihr umgedreht hatten, tanzte nur noch selten; gelegentlich ging sie zu einer Wahrsagerin. Die prophezeite ihr seit drei Jahren das große Glück und verkaufte ihrer Kundin bei jedem Besuch eine neue Salbe gegen Rückenschmerzen und immer die gleiche Mixtur aus brasilianischen Heilkräutern und Johanniskraut gegen ihre Anfälle von Niedergeschlagenheit. Auf ihrem Balkon züchtete Frau Minchen Schnittlauch und Minze, und nach dem vierten Gläschen Eierlikör lachte sie so schelmisch wie früher, allerdings nur, wenn die Rede auf Männer kam, die für sich echte Glashütter Präzisionsuhren kauften und ihrer Frau zum Geburtstag einen neuen Krauthobel schenkten.
    Zu Frau Betsys anhaltender Verärgerung waren die Fenster im Hausflur, trotz eines von ihrem Mann sorgsam abgefassten Rundschreibens an alle Mieter, oft nicht ordnungsgemäß verschlossen. Diesen »unangenehmen, verunreinigenden Zustand« nutzten die Tauben aus und im Parterre auch streunende Katzen. Das kleine, goldfarbene Schild »Betteln und Hausieren verboten«, eine Erinnerung an Johann Isidors Elternhaus in hübsch verschnörkelter Schrift, wurde durch ein großes weißes mit schwarzen Blockbuchstaben ersetzt.
    In den Wohnungen gab es bestimmt Gelächter, Tränen, Streit und Versöhnung, Witz und Aberwitz, doch zu hören war davon wenig. Die dicken Mauern waren so verschwiegen wie ein in Ehren ergrauter Hausdiener in adeligen Häusern. Im Winter hielt das steinerne Bollwerk die Kälte ab, im Sommer die Schwüle. »So ein Haus lebt«, sagte Madame Sternberg, wenn Besitzerstolz und Zufriedenheit ihren Gemütszustand bestimmten.
    Doktor Feldmann vom Parterre, ausgerechnet ein Anwalt, der sich mit den Pflichten eines Mieters hätte auskennen müssen, musste zweimal von seiner Hauswirtin ermahnt werden, am Sonntag nicht in der Mittagszeit Klavier zu spielen und seiner Frau das Hängen von Wäsche auf den vorderen Balkon zu untersagen. Bei dem Versuch, gleichzeitig ein sperriges Stativ und einen massiven Schallplattenschrank aus Eiche in den dritten Stock zu befördern, beschädigte der junge Berghammer das Treppengeländer, doch sicherte sein Vater umgehend zu, für die fällige Reparatur aufzukommen.
    Theo Berghammer, Ottos Freund und Beschützer, der ihn ins Leben eingeführt hatte und dem er immer noch von Herzen verbunden war, hatte sein eigenes

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