01 Das Haus in der Rothschildallee
rechtmäßige Herrscher des Hauses am Hauptbahnhof für sich und die Seinen, für die Kofferberge und die zwei großen Hutschachteln organisiert hatte, vor dem schmiedeeisernen Tor in der Rothschildallee 9 hielten, hatte Josepha gerade begonnen, die Balkonbepflanzung zu versorgen. Noch im Jahr darauf tat es ihr gut, sich die Szene zu vergegenwärtigen. Das Bild war sommerlich, friedlich und federleicht, eine nach Rosen duftende Idylle unter einem Himmel ohne Wolken.
Josepha, die Frau in der Sonntagsschürze und mit der geflochtenen Haarkrone, spürte einen Hauch von Jugend auf ihrer Haut. Sie ließ einen feinen Wasserstrahl auf die weißen, rosa und violetten Wicken regnen. Auf den zarten Blumenköpfen glitzerten die Tropfen in den Farben des Regenbogens. Alle Jahre wieder wurden in den grünen Balkonkästen Wicken gepflanzt. Der Hausherr wollte es so, Wicken waren seine Lieblingsblumen. Er allein kannte den Grund.
Auf einem mit kleinen gelben Kacheln bestückten Blumenhocker standen – in voller Blüte – Victorias geliebte Tränende Herzen. In verschnörkelten Blockbuchstaben hatte Otto »Königin Victoria« auf den braunen Tontopf geschrieben. Diese Hommage war Bruderpflicht gewesen, hatte doch der Unverbesserliche seiner unschuldigen kleinen Schwester weisgemacht, Tränende Herzen wären Wunderblumen mit besonderer Zauberkraft. Sie würden vor strengen Lehrern, schlechten Zensuren, Milchhäutchen auf dem Kakao, Tintenklecksen im Heft und auf weißen Schürzen, vor Spinat, Erbsen, Bohnensuppe und einem plötzlichen Tod in der Familie schützen.
»Und vergiss nicht«, hatte der schamlose Spitzbube geschworen, »dass auch dein Kanarienvogel zu unserer Familie gehört.«
Die gutmütige Josepha hatte vor der Abfahrt nach Baden-Baden mit erhobener Rechten versprechen müssen, die Tränenden Herzen zu hegen und zu pflegen und ihnen jeden Abend zu erzählen, dass Victoria sich einen sprechenden Frosch mit einer Prinzenkrone als Bettgenossen wünschte.
Der Kanarienvogel zirpte ein Danklied für das Apfelstück und ließ wissen, ein zweites würde ihm munden. »Du Vielfraß«, sagte die, die selbst Vögel verwöhnte.
Genau in dem Moment, da sie das zweite Apfelstück zwischen die Gitter vom Käfig klemmte, wurde ihr klar, wer da soeben den zwei Droschken entstiegen war und dass sie, Josepha Krause, in spätestens zehn Minuten Frau Betsy würde erklären müssen, weshalb sie Hanna eigenmächtig Urlaub gewährt hatte. Josepha stöhnte, als sie begriff, dass sie auf einen Schlag als Alleinherrscherin der Wohnung entthront war. Ihre Finger wurden winterklamm, ihre Beine schwankten. Sie selbst starrte so entsetzt in die Tiefe, als hätte sich soeben das Tor zur Hölle vor ihr aufgetan. »Mein Gott«, murmelte Josepha.
Trotz des Schreckens, von dem sie den Eindruck hatte, er würde alles Blut aus ihrem Körper ziehen, registrierte sie jede Einzelheit. Der Hausherr, noch mit der weißen Mütze, die er zu den Baden-Badener Kurkonzerten getragen hatte, und Frau Betsy in ihrem langen grauen Reiserock und mit der schwarz-weiß gestreiften, streng hochgeschlossenen Bluse standen nebeneinander und schauten nach oben. Obgleich die Familie nur elf Tage fort gewesen war, hatte Josepha Hemmungen, wie sie es sonst immer tat, wenn die Familie von einer Reise zurückkehrte, nach unten zu winken und »Willkommen daheim« zu rufen. Sie starrte auf die Zwillinge. Die beiden knufften einander wie in ihren Kindertagen und taten so, als würden sie boxen und treten, doch Josepha konnten sie nicht täuschen. Die Kinderkennerin durchschaute sofort, dass die Munterkeit ihrer geliebten Rabauken nur gespielt war. Clara war zu blass, Victorias Gesicht selbst aus der Entfernung feuerrot. Zweifellos hatte sie längere Zeit geweint.
»Alles wegen dem erschossenen Österreicher«, sagte Josepha die Hellsichtige zum Kanarienvogel. Obgleich sie in der Zeitung nie die aktuellen Nachrichten und erklärenden Berichte las, sondern immer nur das Neueste vom Kaiserhof in Berlin und aus den hessischen Adelshäusern, wusste sie besser in der Welt Bescheid als mancher Mann. Sie konnte Deutschlands Kolonien in Afrika aufzählen und wusste, dass der deutsche Reichskanzler von Bethmann-Hollweg hieß. Erwin, der sich von Kindheit an für das Geschehen auf den Weltmeeren interessierte, hatte ihr die Namen von vier deutschen Kriegsschiffen und einem englischen Schlachtschiff beigebracht.
Die beiden Droschkenfahrer holten die Koffer aus den Wagen, stapelten sie auf
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