01 Das Haus in der Rothschildallee
Ahnung von Bankgeschäften hatte, hatte er, genau wie die hohen Herrn in Berlin, den Ausdruck »Blankoscheck« gebraucht. Johann Isidor vergaß kein Wort der bemerkenswerten Unterhaltung. Zunächst erhellte das Gespräch die Gegenwart, es war wie eine brennende Fackel in einer Winternacht. Das Gefühl, seinem erstgeborenen Sohn, der ihm als Kind oft fremd, widerspenstig und verschlossen erschienen war, gerade in einer beunruhigenden Zeit so nahe zu sein, fand er beglückend. »Beglückend für einen deutschen Vater, der stolz darauf ist, ein Sohn seines deutschen Vaterlands zu sein«, erläuterte er nach dem Mittagsmokka seiner Gattin.
Frau Betsy, frappiert über die berauschte Wortwahl ihres Gatten, dämpfte seine Hochstimmung auf eine Art, die er am gleichen Abend unter Männern ein wenig angeekelt, aber doch wohlwollend belustigt als »typisch Frau« definierte. Spitzfindig hatte die Dame des Hauses nämlich gefragt, weshalb der Kaiser denn, wie in jedem Jahr, zu seiner Nordlandreise aufgebrochen wäre. »Wo wir doch so Knall auf Fall aus Baden-Baden abgereist sind!«
»Quod licet Jovi, non licet bovi, hättest du der guten Mama sagen müssen«, lächelte Otto, als er vom Fauxpas seiner Mutter erfuhr.
Die Gerüchte, es würde bei Bedarf ein Notabitur für Kriegsfreiwillige geben, waren auch zu ihm gedrungen, und der junge Patriot war fest entschlossen, im Kriegsfall umgehend zu den Fahnen zu eilen. Um klarzumachen, wie schwer ihm der Verzicht auf Bildung fiel, bemühte er lateinische Zitate. Die Zwillinge waren tief beeindruckt, sein Vater ein wenig verwirrt, aber stolz, dass der Enkelsohn eines oberhessischen Viehhändlers schon mit achtzehn Jahren zum angesehenen Kreis der klassisch Gebildeten gehörte.
Mit den letzten Erdbeeren und den ersten Sonnenblumen, mit Marschmusik, alten Geschichten und den Hoffnungen der Unschuldsengel tarnte sich die Zeit als Normalität, doch viele Menschen waren angespannt und unsicher. Zwar hatten sie rasch die Vokabeln aus dem Wörterbuch eines deutschen Helden gelernt, doch die wenigsten wussten, was Bündnispflicht, Nibelungentreue und Mobilmachung tatsächlich bedeuteten. Trotzdem wurden die Gespräche anders, der Ton gröber. Die Zeitungen reimten Sieg auf Krieg und bejubelten die großen Zeiten, die es jedem deutschen Mann möglich machten, seinem Vaterland mit Herz und Hand zu dienen. Die Jugend, die noch nicht alt genug war, gegen den Feind ins Feld zu rücken, machte ihrem Herzen zu Hause Luft. Clara erklärte sich für erwachsen und drohte, sie werde im Kriegsfall umgehend aufhören, sich mit der Sprache von Deutschlands Feinden abzugeben. Erwin las, obgleich dies im Lehrplan wahrlich nicht vorgesehen war, »Die Weber« von Gerhart Hauptmann; er nannte seinen Kaiser einen »Vollidioten«, weil der nach der Uraufführung zur Hetzjagd auf das Stück geblasen und die kaiserliche Loge im Deutschen Theater in Berlin gekündigt hatte. Erwins Vater schimpfte seinen Sohn einen »vaterlandslosen Gesellen«, der sich selbst »aus dem Kreis der Anständigen ausgeschlossen« hätte.
»Ausgerechnet jetzt«, seufzte Betsy – alle dachten, auch sie spreche vom Krieg.
Josepha beendete ihren langjährigen Zwist mit dem Milchmann in der Höhenstraße und schickte am gleichen Tag ihrem Cousin, einem Metzger in Friedberg, eine Ansichtskarte vom Frankfurter Palmengarten. Auf der stand geschrieben, sie würde ihn gern mal wiedersehen. »Man weiß nicht, wozu’s gut ist«, sagte sie, doch das stimmte nicht. Josepha mit dem wachen Instinkt hatte sehr konkrete Vorstellungen von der Zukunft.
Selbst die scheue Hanna veränderte sich. Ihre Eltern hatten ihr aus dem Odenwald geschrieben, der Sohn vom Müller Merkental wäre letzten Sonntag bei ihnen vorstellig geworden und hätte gesagt, falls er zu den Soldaten müsse, wolle er Hanna vorher heiraten. Seitdem steckte Hanna ihre Haare hoch und ihre Brust heraus, sang beim Gemüseputzen »Der Kaiser ist ein lieber Mann« und schimpfte auf die Franzosen.
Beim Frühstück debattierten der Vater und sein ältester Sohn über Aufmarschpläne und einen schnellen Bewegungskrieg, von Not und Tod und dem Leid der Witwen sprachen sie nie. Frau Betsy, geboren ein Jahr nach der deutschen Reichsgründung, erklärte beim Einschenken des Morgenkaffees ihren Männern – ohne zu erröten, wie von ihnen verständnislos registriert wurde –, dass sie keine rechte Vorstellung hätte, wie es in einem Krieg zugehe.
»Ich schon«, erwiderte das
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