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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Familienoberhaupt. »Ich war im letzten Krieg immerhin schon zehn und kann mich noch gut an vieles erinnern.«
    »Ach, sag nur, dass es die Leute in deinem oberhessischen Kaff interessiert hat, ob sie einen Kaiser hatten oder nicht.«
    »Ihr Frauen«, sagte Johann Isidor, »habt’s gut. Seht immer nur das eigene kleine Stückchen Leben und nie das große Ganze.«
    »Vielleicht besteht die Welt überhaupt nur deswegen noch.«
    Die meisten Frauen dachten wie Betsy. Deutschlands Erb- und Erzfeinde, die Drohungen aus Berlin, die Stimmung bei den verbündeten Habsburgern und die Schlagkraft der deutschen Kriegsflotte gehörten in die Domäne der Männer. Sie unterlagen nicht dem weiblichen Verantwortungsbereich. Schon Abrahams Sara war für die Familie und das Heim zuständig, nicht für Kampf und Krieg. Trotzdem witterten die Frauen rechtzeitig, dass die Welt dabei war, sich zu verändern. Sie begriffen, dass in einem Vaterland, das sich mehr um Waffen als um das tägliche Brot sorgte, gerade das nicht sicher sein würde, geschweige denn die Ehemänner, Söhne, Brüder und Väter.
    Betsy Sternberg dachte sich wunderschöne Märchen aus und malte zarte Bilder, ihre Wolkenkuckucksheime polsterte sie mit rosa Seidenkissen aus, doch als die Wirklichkeit sie einholte, war sie zur Stelle. An einem hitzeschweren Sonntag stand sie auf dem Balkon. Sie bewunderte Victorias üppig blühenden Tränenden Herzen, lauschte dem Vogelgesang und der Mundharmonika eines jungen Mannes, der sie an ihre Jugend und eine Linde in Pforzheim erinnerte. Als sie jedoch einen Moment die Augen schloss, sah sie den Winter auf kahlen Zweigen hocken. Später hörte sie den Hungerruf der Krähen.
    Am nächsten Morgen sagte sie den Kaffeenachmittag bei ihrer Freundin Margot ab. Stattdessen machte sie einen Besuch beim Kohlenhändler in der Arnsburger Straße. Madame erkundigte sich nach seinem Wohlbefinden, erzählte von Baden-Baden, machte klar, dass sie nur zufällig vorbeigekommen und dass ihr eingefallen wäre, sie könnte sich eigentlich im Herbst einen Gang sparen. Dann bestellte sie zwei Mal so viele Eierbriketts und Koks wie in den Vorjahren. »Sie sind«, sagte der Kohlenhändler, als er die Bestellung notierte, »die dritte Kundin, die heute zufällig bei mir vorbeikommt.«
    Auch Johann Isidor war nicht müßig. Am gleichen Tag wurde er sich überraschend schnell mit dem Handelsmann Krauskopf einig, die Auslieferung des für August bestellten Adlers zu verschieben. »Bis sich die Verhältnisse ein wenig geklärt haben«, sagte der aus seinem Kaufvertrag entlassene Kunde entschuldigend. Es war die ungewohnte Situation, die ihn verlegen machte.
    »Sie sind nicht der Erste«, sagte Herr Krauskopf, »der den Verhältnissen nicht traut, aber die Firma macht keinem Schwierigkeiten. Auch kann ich mir gut vorstellen, dass man die Autos zu militärischen Nutzen requirieren wird.«
    »Vielleicht«, sagte Johann Isidor, »kann ich mich eines Tages bei Ihnen erkenntlich zeigen.«
    Victoria sang: »Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, öffnen die Mädchen die Fenster und die Türen.« Seit der Rückkehr aus Baden-Baden durfte sie allein auf den Spielplatz in der Günthersburgallee und in den Park, und täglich kehrte sie mit den Novitäten der Straße heim. »Wo hast du denn das her?«
    »Wenn im Felde blitzen Bomben und Granaten«, schmetterte die stolze Sängerin, »weinen die Mädchen um ihre Soldaten.«
    »Das haben wir als Kinder auch gesungen«, sagte Josepha gerührt.
    »Was ist ein Ultimatum?«, fragte Clara beim Mittagessen. Ihr Vater kniff die Augen zu, ihr Zwillingsbruder sagte rüde: »Ha!« und tippte sich an die Stirn, die Mutter empfahl: »Ich würde mich an deiner Stelle lieber darum kümmern, dass deine Schulbücher mit frischem Papier eingebunden werden, Fräulein Gerneklug. In deinem Schreibtisch sieht es aus wie in einem Rübenacker.«
    Im Allgemeinen war es Betsys Prinzip, ihre Kinder nicht zu entmutigen und auf ihre Fragen ebenso einzugehen wie auf die von Erwachsenen. Seit einigen Tagen jedoch quälte sie ein Problem, das sie sehr viel mehr verstörte als die Vorstellung, es könnte zum Krieg kommen. Die Mutter von vier Kindern hatte vier Wochen vor ihrem zweiundvierzigsten Geburtstag den ernst zu nehmenden Verdacht, ihre morgendliche Übelkeit sei nicht auf einen gereizten Magen zurückzuführen. Sie war fassungslos und verzweifelt. Vor allem ohne Hoffnung, dass heiße Senfbäder, heißer Cognac und Stoßgebete, der Himmel

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