Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
Leben mit dem kräftigen Zugriff der Glückskinder gemeistert. Er war kein Volontär mehr, sondern ein mit einem Vertrag angestellter Lichtbildner in einem angesehenen Atelier am Rossmarkt. In seiner Mittagspause ging Theo im Großen Hirschgraben spazieren und, wenn er Zeit hatte, dort ins Goethehaus. Er verdiente monatlich mehr Geld, als der wohlhabende Gymnasiast Sternberg in einem halben Jahr in die Hand bekam, und er trug immer noch einen roten Schal, um seine unkonventionelle Art zu betonen. Um seine Stiefmutter Minchen kümmerte er sich rührend. Allein sein Vater wusste nichts davon.
    Marie, dem rothaarigen Dienstmädchen aus der Wohnung im zweiten Stock, wurde von Josepha im Auftrag von Frau Betsy energisch erklärt, sie möge es nicht im Hof zu ruhestörendem Verhalten und zum Austausch von Intimitäten kommen lassen. Ihr Bräutigam war Straßenbahnschaffner mit Schichtdienst; er hatte die unangenehme Angewohnheit, den Beginn seiner dienstfreien Zeit mit einer Fahrradklingel anzukündigen, woraufhin die Marie polternd die Treppen hinunterzusausen pflegte – wochentags trug sie meistens Holzschuhe, und zudem hörte sie nur auf einem Ohr.
    In diesen brütenden Hundstagen machten sich die Bornheimer Spatzen mit besonderem Eifer an die Sauerkirschen im Hinterhof. Auf Frau Betsys Drohungen mit dem Besenstiel gaben sie keinen Pfifferling und verschandelten die Wäschebleiche. Überall lagen Kirschkerne und abgebrochene Zweige herum.
    Wie alljährlich in den großen Ferien kochte Josepha die erste Marmelade – die Johannisbeeren und Stachelbeeren aus einem kleinen Anwesen in Seckbach, überbracht von einem Mann mit Karre und Klumpfuß, waren früh reif geworden und größer als sonst. Wenn Josepha in den Töpfen rührte und jener sättigende Duft von Süße und Sommer durch die Wohnung und den Hausflur zog, der jedes Frauenherz belebt, war sie beglückt, allerdings auch ein wenig verwundert über sich selbst. »Ich weiß nicht«, vertraute sie in der dampfenden Küche der Hüterin des Hauses an, »was dieses Jahr mit mir los ist. Ich will immerzu mehr und noch mehr Marmelade einmachen. Ich zähle schon im Traum Gläser und putze Obst. Neulich habe ich sogar geträumt, dass es keinen Zucker mehr gibt.«
    »Vielleicht weil mein Mann und Otto so oft vom Krieg reden«, mutmaßte Frau Betsy, »das muss ja abfärben.«
    Sie hatte es ihrer fleißigen Köchin kein bisschen verargt, dass sie der heimwehkranken Hanna eigenmächtig drei Tage Urlaub gewährt hatte. »Hauptsache, Hannas Arbeit wird erledigt«, hatte die Chefin gutmütig gesagt, als sie von den Geschehnissen während ihres Baden-Badener Aufenthalts erfuhr. Josepha hatte es als wohltuend großzügig und sehr feinfühlig empfunden, dass ihre Chefin so rasch vom Thema ab- und auf die Zukunft gekommen war.
    »Vielleicht«, hatte Frau Betsy vorgeschlagen, »sollten wir dieses Jahr mal mehr junge Zwiebeln kaufen als sonst, wenn unser Mann aus Oberrad vorbeikommt. Man kann sie in Essig einlegen, dann halten sie ewig. Frau Grünthal hat mich bei unserem letzten Kaffeenachmittag auf die Idee gebracht. Selbst in einem Haushalt mit Kindern sind Zwiebeln vielseitig zu gebrauchen. Wir sollten auch zusehen, dass uns die Frühkarotten nicht entgehen.«
    »Und die Wachsbohnen auch nicht«, verstand Josepha. »Der Gemüsehändler Mayer in der Wiesenstraße hat gerade gestern gesagt, in einem Pfund Wachsbohnen steckt mehr Kraft als in einem Pfund Schweinefleisch.«
    Drei Tage später berichtete Josepha, sie hätte von sieben mageren Kühen geträumt, und der biblische Joseph persönlich hätte sie daran erinnert, dass dieser Traum für sieben magere Jahre und den großen Hunger stehen würde. Auch war die Kassandra vom Kochherd nicht mehr von der Theorie abzubringen, dass Frauen ebenso früh wie Katzen oder Kanarienvögel drohendes Unheil wittern. Am nächsten Tag bestellte sie beim Gemüsehändler mit den nahrhaften Wachsbohnen zwei Zentner Kartoffeln – außer der Reihe und zunächst auch ohne Wissen ihrer Arbeitgeberin.
    Am 6. Juli erklärte Johann Isidor beim Frühstück seinem ältesten Sohn, was es für das Reich »und seine perfiden Feinde« bedeutete, dass Deutschland gegenüber Österreich-Ungarn seine uneingeschränkte Bündnistreue zugesichert hatte. Bei diesem Gespräch hatte der gerührte Vater den Eindruck, Otto hätte ihm nie zuvor mit solcher Aufmerksamkeit zugehört und auch noch nie so interessierte und kundige Fragen gestellt. Obwohl Otto nicht die geringste

Weitere Kostenlose Bücher