01 Das Haus in der Rothschildallee
der Straße und griffen nach den vier größten. Sie ächzten laut, um klarzustellen, dass sie ein solches Gewicht nicht gewohnt wären, erreichten aber trotzdem mit nur wenigen Schritten das Hoftor. Otto sprang herbei und machte es auf, worauf die Kofferträger gleichzeitig »Hui« und »Hott!« riefen, als hätten sie es immer noch mit Pferden zu tun. Einen Moment schauten sie sich enttäuscht um, weil ihr Witz nicht gezündet hatte; dann liefen sie weiter zur Haustür.
Ein plötzlicher Windstoß wehte einen grünen Sommerhut mit breitem Rand über die Straße und mitten in ein Rosenbeet auf dem Rasenstreifen, der die Rothschildallee in der Mitte trennte. »Los, Erwin«, rief sein Vater mit einer Stimme, die donnerlaut und ungewohnt unfreundlich war, »halt die Maulaffen nicht feil. Beweg’ dich endlich und hol den Hut zurück.«
Jettchen, der der teure Hut so roh entrissen worden war, als wäre er ein wertloses Stück Papier, griff sich an den Kopf mit dem flatternden Haar und schrie erschrocken auf. »O Gott«, jammerte sie, »wenn das nicht ein böses Omen ist.« Erst als sie die Stimme hörte, wurde es Josepha klar, dass die Doyenne der Familie mit nach Frankfurt gekommen war und dass Hanna noch nicht, wie von Frau Betsy vor der Abfahrt befohlen, das Gästebett frisch bezogen hatte.
In den erstarrten Körper der tüchtigsten Köchin am Schnittpunkt zwischen dem Frankfurter Nordend und dem Stadtteil Bornheim kehrte das Leben so plötzlich zurück, wie es entflohen war. Josepha, vor zehn Minuten noch wohlig in einem daunenweichen Kissen aus Sommerträumen gebettet und dann von einer erbarmungslosen Schicksalshand wach gerüttelt, konnte mit einem Mal wieder denken und lenken. Vor allem konnte sie so reagieren, wie es sich für eine gehörte, deren Loblied von ihrer Herrin bei jedem Damenkränzchen in höchsten Tönen gesungen wurde. Die Wunderköchin befeuchtete die Lippen mit ihrer allerorten gepriesenen feinen Zunge; angestrengt überlegte sie, wie sie in der Zeit, die ihr verblieb, ein standesgemäßes Abendessen für sieben Personen auf den Tisch stellen sollte. Im Geiste inspizierte sie Speisekammer und Keller. Einen schrecklichen Augenblick, der zum Glück nicht länger währte als ein Wimpernschlag, geriet ihr Leben noch einmal aus dem Lot – mit schweißnasser Stirn grübelte sie, wie aus zwei Eiern und einem Rest Bordeaux eine schmackhafte Weincreme zum Dessert herzustellen wäre.
Für die Köchin Josepha Krause aus Bad Nauheim, ledig, pflichtbewusst und zuverlässig, hatte es bis dahin keinen Knoten gegeben, den sie nicht wie Alexander der Große mit kühnem Schwert zu zerschlagen wusste. Nun aber bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen – wie ein altes Klageweib, das nichts gelernt hat, als seinen Jammer in die Welt zu schreien. Dreißig Sekunden zu spät wurde sie sich gewahr, dass sie vergessen hatte, vor ihrem Reuebekenntnis die Gießkanne aus der Hand zu tun.
Die schöne grasgrüne Kanne, auf einer Seite mit dem Bild einer lachenden Sonne verziert, unmittelbar vor den Schulferien in dem Haushaltsgeschäft Lorey gekauft, das zum Beginn der Saison hübsches und preiswertes Gerät für Haus und Garten feilbot, stürzte hinab. Sie fiel wie ein in der Luft von Kugeln durchsiebter Raubvogel in die Tiefe und prallte mit Donnerknall erst gegen eine der beiden Betonsäulen am Hofeingang und dann auf das Straßenpflaster.
Erwin, Tante Jettchens grünen Hut wie eine Siegestrophäe schwenkend, brüllte: »Tor!« Theatralisch schlug er die Hacken zusammen, mit der Linken salutierte er. Noch mochte Erwin keine Gelegenheit auslassen, um der Welt vorzuführen, dass er zum forschen Jüngling herangereift war, der mit der Zeit ging und sich sogar für Fußball interessierte. In Wirklichkeit lagen die Dinge diametral umgekehrt. Jede Sportart erschien dem sensiblen Jungen grob, jede körperliche Berührung auf dem Spielfeld und in der Turnhalle zu intim.
Josepha senkte ihren Kopf. Sie seufzte beschämt ein leises »Ach«, und wie ein Kind, das ein zu hastig gesprochenes Wort in die Kehle zurückholen will, schlug sie sich auf den Mund. Frau Betsy, gleich stark verärgert über den Sturz ihrer neuen Gießkanne und Erwins alberner Reaktion auf eine häusliche Kalamität, beobachtete ihre Köchin mit Augen, die keine Milde und erst recht kein Mitleid erkennen ließen. Ihre Stimme war ungeduldig und schrill. »Josepha«, rief sie nach oben, »schicken Sie uns doch endlich die Hanna herunter, damit sie den
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