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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Männern mit den Koffern hilft. Muss ich denn alles einzeln anordnen?« Plötzlich, als läge nicht schon Vorwurf genug in dieser harsch befehlenden Stimme, brüllte die Dame des Hauses so laut und erschreckend los, dass jedes einzelne Wort zu hören war – von der benachbarten Egenolffstraße bis zur zweihundert Meter entfernten Höhenstraße. »Mein Gott, Victoria, hör endlich auf zu plärren. Ich schwöre dir, wenn du noch einmal von den verdammten Pflaumen anfängst, kriegst du von mir die erste Backpfeife deines Lebens. Und dann wirst du wenigstens wissen, weshalb du heulst.«
    »Besser, du lernst beizeiten, dass das Leben ungerecht ist, arme kleine Prinzessin«, sagte Otto. Seine Stimme tröpfelte Ironie in ihre verwundete Seele, und er lachte so grob, wie nur große Brüder lachen, wenn sie der kleinen Schwester den Wein der Erkenntnis einschenken. Als er Victoria hochhob und an seine Schulter drückte, waren seine Augen jedoch voller Mitleid. Zärtlich rieb er sein Kinn an ihrer Wange.
    Victoria sprach nie von dem Tag, da Otto, der Riese, der für gewöhnlich einem vorwitzigen kleinen Mädchen nicht mehr Beachtung zukommen ließ als den Gänseblümchen auf den Frühlingswiesen, so zärtlich gewesen war wie ein Teddybär in mondloser Nacht. Mit jedem Atemzug zermalmte er ihren großen Kummer zu einem winzigen Staubkorn, und ihr ganzes Leben erinnerte sie sich an den Duft seiner Haut in jenem Glücksmoment, da er und sie die einzigen Menschen auf der Welt gewesen waren.
    Selbstverständlich vergaß die mit dem guten Gedächtnis auch nie die Baden-Badener Schokoladenpflaumen im raschelnden Goldpapier, die ihr für den Tag der Abfahrt versprochen worden und durch den überstürzten Aufbruch ihrer Eltern aus dem gastlichen Badhotel zum Hirsch entgangen waren. Bis die Zeit ihr die Träume stahl und sie zu einer Wissenden machte, war Victoria überzeugt, es wäre nur deshalb zum Krieg gekommen, weil ein neidischer kleiner Teufel ihr die Schokoladenpflaumen aus Baden-Baden missgönnt hätte.
    Die eigene Welt, das Haus mit seinen im Jahr davor frisch verputzten Mauern und den frisch gestärkten Stores in jedem Fenster, der Vorgarten mit den Teerosen, die im Jahr 1914 üppiger blühten als je zuvor, die Mauersegler, die noch lange nicht an Abschied dachten, ein Laubfrosch aus Zelluloid, der seit Frühlingsbeginn im Gebüsch logierte, hießen die Heimkehrer aus Baden-Baden willkommen. Über die Grünanlage, die die Allee teilte, spannten die Baumkronen ein Dach aus Schatten und Sommer. Ein weißer Mercedes mit blitzendem Chrom fuhr zügig von der Nibelungenallee heran. Der Fahrer hupte drei barfüßige Buben herrisch von der Straße und fuhr feindselig auf ihren roten Ball zu, doch die Jungen hielten den Männerzorn für einen Scherz und zeigten ihm lachend eine lange Nase.
    »Bravo«, spornte sie Erwin an und verbeugte sich, Tante Jettchens abenteuerdurstigen grünen Hut noch immer in der Hand.
    Frau Betsy zwinkerte ihrem Mann zu, weil sie bisher doch als Einzige in der Familie wusste, dass er ein Auto bestellt hatte, doch Johann Isidor wandte sich ab, ehe seine Augen ihn verraten konnten. Wieder einmal wusste er mehr als seine Frau. Er hatte vor, mit dem Autohaus zu verhandeln, ob er den Kaufvertrag für den Adler rückgängig machen könnte, wenn es zum Krieg kommen sollte.
    Vom Bürgersteig stiegen kleine Dampfwolken nach oben. Die Rothschildallee war der Hitze wegen nass gespritzt worden. Sie sah so sauber aus wie die Straßen auf den Ansichtskarten, die Johann Isidor im Laufe der Jahre sehr viel Geld eingebracht hatten. Vor dem kleinen Gemüseladen an der Ecke zur Martin-Luther-Straße war der Vorgarten eine frei zugängliche Grünfläche. Auf ihr standen helle Holzkisten mit Erdbeeren aus Kronberg. Auch die Frühkirschen von der Bergstraße, in kleinen Körbchen präsentiert, leuchteten rot. Victoria folgte dem Blick ihrer Mutter, doch statt der mundwässernden Erdbeeren sah sie nur den Spinat; sie schniefte so heftig, als würde er bereits gekocht vor ihr stehen. Mit verlorenen Eiern und einer dicken weißen Soße, die sie auch nicht gerne aß.
    »Schön, dass Sie wieder da sind, gnädige Frau«, rief der Geschäftsinhaber, »ich hab Sie schon vermisst.« Er trug einen weißen Kittel, darüber eine grüne Schürze und eine graue Schirmmütze.
    »Kann ich mir vorstellen, du Gauner«, murmelte Josepha vom Balkon herunter, »wir sind schließlich deine besten Kunden.«
    Um sich an des Sommers Fülle zu freuen,

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