01 - Gnadenlos
überall nach ihm gesucht.«
»Wind mit vierzig Knoten. Hat ganz schön gepustet, Portagee«, erklärte Kelly. »Ist auch ganz schön schnell rangekommen.«
»Jaja, wir haben auch schon sechs Boote gerettet, bloß das eine fehlt noch. Haben Sie letzte Nacht irgendwas Ungewöhnliches gesehen?«
»Nein. Bin von Baltimore rausgekommen um... na, etwa 16 Uhr, denke ich. Zweieinhalb Stunden Herfahrt. Hab gleich, als das Gewitter da war, Anker geworfen. Sicht war ganz schön schlecht, hab so gut wie nichts gesehen, bevor wir nach unten sind.«
»Wir«, bemerkte Oreza und streckte sich. Er ging zum Steuerrad, hob das regendurchweichte Top auf und schob es Kelly zu. Sein Gesichtsausdruck blieb neutral, aber hinter seinen Augen leuchtete Interesse auf. Er hoffte, daß sein Freund jemand gefunden hatte. Das Leben hatte es mit diesem Mann nicht besonders gut gemeint.
Kelly gab ihm den Becher mit einem gleichfalls neutralen Gesichtsausdruck zurück.
»Hinter uns ist ein Frachter rausgekommen«, fuhr er fort. »Unter italienischer Flagge, etwa halbvolles Containerschiff, muß etwa fünfzehn Knoten gemacht haben. Hat noch jemand den Hafen verlassen?«
»Mhm.« Oreza rückte und sagte dann in professionellem, leicht verärgertem Tonfall: »Das macht mir Sorgen. Diese Scheißfrachter, die mit Volldampf rausrauschen und nicht aufpassen.«
»Na ja, zum Teufel, wenn du außerhalb des Steuerhauses stehst, kannst du eben naß werden. Außerdem könnte vielleicht irgendwas an der Ausrüstung gegen eine Gewerkschaftsbestimmung verstoßen, nicht? Vielleicht ist Ihr Kerl untergegangen«, bemerkte Kelly düster. Das wäre nicht das erste Mal, selbst in einem so zahmen Gewässer wie der Chesapeake.
»Vielleicht«, sagte Oreza, während er seine Blicke forschend über den Horizont schweifen ließ. Er runzelte die Stirn, weil er der Vermutung keinen Glauben schenkte und außerdem zu müde war, um das zu verbergen. »Jedenfalls, wenn Sie eine kleine Jolle mit einem orange und weiß gestreiften Segel sehen, rufen Sie mich an?«
»Geht in Ordnung.«
Oreza schaute nach vorn und drehte sich um. »Zwei Anker für das bißchen Wind, das wir hatten? Sie sind nicht weit genug voneinander entfernt. Dachte, Sie wüßten es besser.«
»Ich bin Bosun's Mate«, erinnerte ihn Kelly. »Seit wann nimmt sich ein Buchhalter einem echten Seemann gegenüber Freiheiten heraus?« Es war nur ein Scherz. Kelly wußte, daß Portagee in einem kleinen Boot der Bessere war. Wenn auch nur um eine Kleinigkeit, aber das wußten beide ebenfalls,
Oreza grinste auf seinem Weg zurück zum Kutter. Nachdem er wieder an Bord gesprungen war, deutete er auf das Top in Kellys Hand. »Vergessen Sie nicht, Ihr Hemd anzuziehen, Chief. Sieht aus, als würde es gerade gut passen.« Ein lachender Oreza verschwand im Steuerhaus, bevor Kelly eine schlagfertige Erwiderung einfiel. Drüben bei ihnen schien jemand zu sein, der keine Uniform anhatte, was Kelly überraschte. Einen Augenblick später tuckerten die Motoren des Kutters wieder, und das Boot dampfte nach Nordwesten ab.
»Guten Morgen.« Das war Pam. »Was war das?«
Kelly drehte sich um. Sie trug nicht mehr als vorhin, da er die Decke über sie gezogen harte, aber Kelly entschied augenblicklich, daß er sich von ihr nur noch überraschen lassen wollte, wenn sie etwas Vorhersagbares tat. Ihr Haar war eine medusagleiche Masse wirrer Flechten, und ihr Blick war verschwommen, als hätte sie gar nicht gut geschlafen.
»Küstenwache. Sie suchen nach einem vermißten Boot. Wie hast du geschlafen?«
»Ganz gut.« Sie kam zu ihm her. Ihre Augen hatten einen weichen Schlafzimmerblick, der ihm so früh am Morgen sonderbar vorkam, aber für den hellwachen Seemann nicht anziehender hätte sein können.
»Guten Morgen.« Ein Kuß. Eine Umarmung. Pam riß die Arme hoch und vollführte so etwas wie eine Pirouette. Kelly packte sie an der schlanken Taille und hob sie hoch.
»Was möchtest du zum Frühstück?« fragte er.
»Ich esse morgens nichts«, erwiderte Pam, während sie die Arme zu ihm hinunterstreckte.
»Oh.« Kelly lächelte. »Na gut.«
Etwa eine Stunde später änderte sie ihre Meinung. Kelly machte Eier mit Speck auf dem Kombüsenkocher, und Pam schlang sie so hungrig hinunter, daß er trotz ihrer Einwände eine zweite Portion machte. Bei genauerem Hinsehen war das Mädchen nicht bloß dünn, es zeigten sich sogar einige Rippen. Sie war unterernährt, eine Beobachtung, die eine weitere unausgesprochene Frage aufwarf. Doch
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