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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Kapitel 1
    London, Petticoat Lane, Oktober 1860
    E s war die Musik, die Mildred die Zeit vergessen ließ.
    Das Klavier. Sie hatten es über die Rampe auf das von Menschen umringte Podium geschoben, und wenn Mildred sich reckte, bekam sie den vornehm gekleideten Pianisten zu sehen. Die Menge gab keine Ruhe. Das tat sie nie, hier auf dem Kleidermarkt in der Petticoat Lane, keiner sprach, alles brüllte, keiner roch, alles stank. Das Klavierspiel hörte Mildred trotzdem, als hätten ihre Ohren einen Filter, wie ihn die reichen Leute für ihr Wasser benutzten, und aller Dreck bliebe darin hängen, bis die Töne klar wie Wassertropfen perlten.
    Nach dem anderen Leben klang es, nach dem, das Mildred sich ausmalte, wenn sie trotz aller Erschöpfung keinen Schlaf fand. Nach Schönheit, Würde und im Sonnenlicht leuchtenden Kleidern, und es war wahrhaftig ein Klavier, keine plärrende Drehorgel oder jüdische Harfe, deren Gejammer man an allen Ecken des Bezirks über sich ergehen lassen musste. Es hätte im Salon ihrer Eltern stehen können, wäre sie anderswo geboren worden. Anderswo, nicht in Londons Osten, in einem Höllenloch, das sich Whitechapel nannte. Mildreds Eltern hatten keinen Salon, von einem Klavier darin ganz zu schweigen.
    Mit den Ellbogen hackte sie eine Schneise in die Menschenmasse, die sich quetschte wie neuerdings Sardinen in der Dose und auch ähnlich roch. Mildred hielt sich die Nase zu und lauschte. Bei solcher Musik vergaß sie, dass sie auf einem dreckigen Marktplatz stand und wertlose Altkleider verkaufte. Im Bann der Melodie erträumte sie sich, dass ihr ein Schicksal wie Oliver Twist beschieden war. Der war ebenfalls in bitterer Armut aufgewachsen, bis eines Tages ein Graf auftauchte und in ihm seinen Enkel erkannte. Mildred ballte die Hände zu Fäusten. Die Geschichte des beneidenswerten Oliver hatte ihre Schwester Daphne ihr vorgelesen, die Bücher verschlang wie eine höhere Tochter.
    Neben das Klavier trat eine füllige Dame mit Pleureuse am Hütchen und sang in schrillem Sopran, sie heiße Ellie und sei die Schönheit der Allee. Mildred hätte aufbrechen müssen. Ihre Schwester erwartete sie bei den Läden in der Goulston Street, wo sie das Nötigste einkaufen wollten, und nichts fürchtete Daphne mehr, als in der finsteren Gasse allein zu sein. Dennoch vermochte Mildred sich nicht loszureißen. Gefesselt stand sie und hörte der wohlgenährten Ellie zu, die sang, dass ihr Liebster kommen und sie abholen werde, geradewegs in ihrer beider Paradies.
    Ins Paradies hätte er gern auch Mildred und Daphne holen dürfen. Nur schien Ellie sich ein windschiefes Kämmerlein unter einem regendurchlässigen Dach von Whitechapel darunter vorzustellen, während für Mildred das Paradies keine Kämmerlein kannte und schon gar keinen Regen. Mildreds Paradies trug einen Namen, der nach endloser Weite klang, nach weißen Häusern mit Säulen und gleißender Sonne. Seit man keine Verbrecher mehr dorthin verschiffte, war es der Name des Garten Edens – Australien.
    Eine Bewegung riss Mildred aus den Träumen. An ihrer Hüfte spürte sie ein Reiben, erst wie versehentlich, dann bestimmter und schließlich unverschämt. Irgendein Dreckskerl, der das Gedränge und die beginnende Dämmerung ausnutzte, statt vier Pennys für eine Hure springen zu lassen. Als Mildred ihre Nase freigab, verriet der Duft, wer er war – ein altes Knochengestell, das die gesamte Marktstraße Kartoffel-Paul nannte, weil es im fahrbaren Ofen Kartoffeln ausbuk und für einen Penny das Stück verhökerte. Speichel füllte ihr den Mund. In der Wohnung ihrer Eltern fehlte es seit Wochen an Koks, um warmes Essen zu bereiten.
    »Heißes Kartöffelchen gefällig, die Dame?« So rasch sie zur Seite trat, so rasch rückte der Alte nach, spießte einen der kross gerösteten Erdäpfel auf und hielt ihr die Stelle, an der die Schale geplatzt war, vor die Nase. Der Duft umnebelte ihr den Verstand, und genau das hatte der Lump beabsichtigt. Allen Teufeln der Hölle hätte sie Widerstand geleistet, aber keiner gebackenen Kartoffel. »Köstlich, köstlich«, wisperte er ihr ins Ohr, tauchte einen Löffel ins Butterfass und strich auf die Schale einen goldgelben Batzen, der in sämige Bäche zerlief. »Nur einen Penny, und für ein hübsches Schätzchen gibt’s noch ein Löffelchen Butter obendrauf.«
    Abrupt brach das Lied der dicken Ellie ab. Die Geräusche des Marktes quollen an die Oberfläche, das Johlen, Scharren und Rascheln, die knirschenden

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