01 - Gnadenlos
vor Moskau. Mein Vater ist zu seinem Transportregiment aufgebrochen - es bestand aus Universitätsprofessoren. Die Hälfte kam nie zurück. Meine Mutter hat mit mir die Stadt verlassen, ging in ein kleines Dorf im Osten, dessen Namen ich vergessen habe - es war alles so verwirrend, und in meiner Erinnerung war es immer dunkel. Wir machten uns Sorgen um meinen Vater, einen Professor für Geschichte, der jetzt einen LKW fuhr. Wir haben im Krieg mit den Deutschen zwanzig Millionen Menschen verloren, Robin! Zwanzig Millionen! Es waren auch Leute darunter, die ich kannte. Väter meiner Freunde - der Vater meiner Frau ist im Krieg gefallen. Und auch zwei meiner Onkel. Als ich damals mit meiner Mutter durch den Schnee gestapft bin, habe ich mir geschworen, daß ich mein Vaterland eines Tages ebenfalls verteidigen würde. Deshalb bin ich Abfangjäger-Pilot geworden. Ich dringe nicht in fremde Gebiete ein. Ich greife niemanden an. Ich verteidige nur. Verstehst du, was ich sagen will, Robin? Meine Aufgabe besteht darin, mein Land zu schützen, so daß die Kinder von heute nicht mitten im Winter aus ihren Wohnungen flüchten müssen. Ein paar meiner Klassenkameraden sind damals erfroren. Deshalb will ich mein Land verteidigen. Damals wollten sich die Deutschen holen, was wir haben, und heute sind es die Chinesen.« Er wies auf die Zellentür. »Leute... Leute wie die hier.«
Noch bevor Zacharias antwortete, wußte Kolja, daß er ihn hatte. Monate harter Arbeit für diesen einen Moment. Wie die Verführung einer Jungfrau, dachte Grischanow, nur viel trauriger. Dieser Mann würde seine Heimat nie wiedersehen. Die Vietnamesen waren fest entschlossen, diese Männer umzubringen, sobald sie nicht mehr von Nutzen waren. Welch eine ungeheure Verschwendung von Talenten. Seine Antipathie gegen seine vermeintlichen Verbündeten war nicht länger vorgespielt, sondern mittlerweile so real geworden, wie er es immer befürchtet hatte - seit jenem Tag, als er in Hanoi eingetroffen war und mit eigenen Augen ihre arrogante Überheblichkeit, ihre unvorstellbare Grausamkeit und ihre Dummheit gesehen hatte. Mit freundlichen Worten und nicht mal einem Liter Wodka hatte er mehr erreicht als sie mit ihren Folterungen und geistlosen Haßgefühlen. Er hatte seinem Gefangenen keine Schmerzen zugefügt, sondern sie mit ihm geteilt. Anstatt ihn zu demütigen, war er ihm freundlich gegenübergetreten, hatte ihn respektiert, nach besten Kräften seine Schmerzen gelindert ihn vor weiteren bewahrt. Und jetzt bedauerte er bitterlich, daß er gezwungenermaßen Ursache der meisten Schmerzen gewesen war.
Allerdings hatte dieses Vorgehen auch seine Schattenseite. Um diesen Durchbruch zu erreichen, hatte er sein Innerstes geöffnet, wahre Erlebnisse erzählt, die Alpträume seiner Kindheit wieder heraufbeschworen und noch einmal die alte Frage gestellt, was ihn denn unwirklich zur Wahl seines geliebten Berufes bewogen hatte. Das war nur denkbar, ja, möglich gewesen, weil er gewußt hatte, daß der Mann an seiner Seite - von seiner Familie und seinem Land ohnehin schon totgeglaubt - zu einem einsamen, unregistrierten Tod und einem anonymen Grab verurteilt war. Dieser Mann war keiner von Hitlers Nazis. Zwar war er ein Feind, aber einer von der ehrlichen Sorte, der sich wahrscheinlich so weit wie möglich bemüht hatte, die Zivilbevölkerung vor Schaden zu bewahren, weil er schließlich selber auch eine Familie hatte. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Rassendünkel - nicht einmal Haß auf die Nordvietnamesen. Für Grischanow war dies das Bemerkenswerteste an der Sache, denn er selbst hatte sie immer mehr hassen gelernt. Zacharias hatte den Tod nicht verdient, sagte sich Grischanow und war sich gleichzeitig bewußt, daß dies die größte Ironie überhaupt war.
Kolja Grischanow und Robin Zacharias waren Freunde geworden.
»Wie findest du denn das?« fragte Douglas, während er die Flasche auf Ryans Schreibtisch stellte. Sie steckte in einem durchsichtigen Plastikbeutel, und ihr glattes, schimmerndes Glas war gleichmäßig mit einem feinen gelben Pulver eingestaubt.
»Keine Fingerabdrücke?« Emmet blickte überrascht auf. »Nicht mal ein verschmierter, Em. Null.« Als nächstes legte er das Messer hin. Es war ein einfaches Klappmesser, ebenfalls eingestäubt und in einer Tüte.
»Aber dort sind Spuren.«
»Ein unvollständiger Daumenabdruck, gehört dem Opfer. Nichts, was uns weiterhelfen würde, bloß Schlieren, strukturlose Schlieren, wie die von der
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