01 - Gnadenlos
gingen. Kelly schlich sich lautlos nach draußen und fuhr mit dem VW den Loch Raven Boulevard entlang, vorbei an Kirchen, weiteren Apartmentanlagen und dem städtischen Sportstadion. Schrittweise wandelten sich die Viertel von einer kleinbürgerlichen zur Arbeitergegend und von Arbeitergegend zum Wohngebiet der Sozialhilfeempfänger. Wie immer fuhr er weiter auf seinem Weg an den dunklen Bürogebäuden in der Innenstadt vorbei. Trotzdem war in dieser Nacht alles anders.
Heute würde er seinen ersten großen Schlag führen. Damit war zwar ein Risiko verbunden, aber das gehörte nun mal zur Natur der Sache, dachte Kelly, während sich seine Finger um das Plastik-Lenkrad klammerten. Er mochte die Gummihandschuhe nicht. Im Inneren staute sich die Hitze, und obwohl der Schweiß seinen Griff nicht unsicher machte, war ihm das Gefühl höchst unangenehm. Doch es gab keine Alternative, und er erinnerte sich noch gut, wie ihm in Vietnam auch vieles nicht gefallen hatte. Zum Beispiel die Blutegel, und allein schon bei dem Gedanken an diese Tiere stellten sich ihm die Haare auf. Sie waren sogar noch schlimmer als Ratten, denn die saugten einem wenigstens nicht das Blut aus.
Kelly ließ sich Zeit. Scheinbar zufällig fuhr er an seinem Zielort vorbei und peilte vorsichtig die Lage. Das machte sich bezahlt. Er sah zwei Polizeibeamte, die mit einem Penner sprachen. Einer stand dicht vor ihm, der andere zwei Schritte zurück. Was wie Zufall aussah, verriet Kelly, was er wissen wollte. Der eine deckte den anderen. Sie hielten den Penner für eine potentielle Gefahr,
Die suchen nach dir Johnnyboy, sagte er sich, während er das Auto wendete und in eine andere Straße einbog.
Aber die Polizisten würden doch nicht ihre gesamte Einsatzroutine ändern - oder etwa doch? Sich die Penner genauer anzusehen und ein paar Worte mit ihnen zu wechseln würde in den kommenden Nächten eine Zusatzaufgabe darstellen. Deshalb gab es aber immer noch andere Dinge, die Vorrang hatten, wie beispielsweise der Einsatz bei einem Überfall im Schnapsladen, das Eingreifen bei Familienstreitigkeiten, ja sogar Verletzungen der Verkehrsregeln. Nein, stänkernde Betrunkene waren nur eine zusätzliche Belastung für diese ohnehin schon überarbeiteten Männer. Es würde ihnen auf ihren routinemäßigen Streifenfahrten Abwechslung bringen, und Kelly hatte sich schließlich die Mühe gemacht, ihre Routen genauestens zu studieren. Von daher war die zusätzliche Bedrohung in etwa abzuschätzen, und Kelly war der Meinung, daß er seinen Anteil an Pech bei dieser Mission schon abbekommen hatte. Nur einmal noch, und dann würde er seine Vorgehensweise ändern. Wie er dann agieren wollte, wußte er noch nicht, aber wenn alles gut verlief - wie er hoffte -, würde er die nötigen Informationen erhalten.
Er bedankte sich beim Schicksal, als er nur noch eine Straßenecke vom Sandsteinhaus entfernt war. Der Roadrunner parkte vor der Tür, also eine Nacht, in der die Gelder kassiert wurden; das Mädchen würde nicht da sein. Er fuhr am Haus vorbei bis zur übernächsten Straßenecke, bevor er nach rechts abbog. Dann einen weiteren Block und noch einmal nach rechts. Beim Anblick eines Streifenwagens sah Kelly auf die Uhr. Das Polizeiauto war nur fünf Minuten von seiner üblichen Zeit abgewichen, und es saß nur ein Beamter drin. Innerhalb der nächsten zwei Stunden würde kein weiteres mehr vorbeikommen, sagte sich Kelly und bog zum letztenmal um eine Ecke, auf das Sandsteinhaus zu. Er parkte so nahe am Gebäude, wie es ihm gerade noch ratsam erschien. Dann entfernte er sich gut einen Block von seinem Zielort, bevor er in seine Tarnhaltung verfiel.
In diesem Block hatten zwei Dealer ihr Revier, beides Einzelgänger. Sie wirkten ein wenig angespannt. Vielleicht hatte es sich bereits herumgesprochen, dachte Kelly mit einem unterdrückten Grinsen. Ein paar ihrer Brüder waren ausradiert worden, und das bot ja wohl Grund genug zur Sorge. Er behielt die beiden im Auge, während er die Straße entlangschlurfte, und amüsierte sich innerlich bei der Vorstellung, daß sie nicht wußten, wie nahe der Tod an ihnen vorüberging. Daß ihr Leben an einem seidenen Faden hing und sie keine Ahnung davon hatten. Aber laß dich nicht ablenken, hielt Kelly sich vor. Erneut bog er um eine Ecke und ging jetzt auf sein Ziel zu. An der Ecke blieb er kurz stehen und blickte sich um. Es war mittlerweile ein Uhr nachts. Allmählich setzte die übliche Erschöpfung ein, die zum Ende eines
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