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01 - Gnadenlos

01 - Gnadenlos

Titel: 01 - Gnadenlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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ein Mädchen, das einfach fürchterlich aussah.
    »Melden Sie sich krank, und gehen Sie heute nicht zur Arbeit. Sie müssen sich um sie kümmern. Sie heißt Doris.« Kelly sprach in dem sachlichen Kommandoton eines Chirurgen bei einer komplizierten Operation.
    »Warten Sie einen Moment!« Sandy richtete sich auf, ihre Gedanken überschlugen sich. Kelly trug eine Frauenperücke - die eigentlich zu schmutzig war, um als solche durchgehen zu können. Außerdem war er unrasiert. Sein ganzer Aufzug war entsetzlich. Aber in seinen Augen brannte etwas Undefinierbares. Zum Teil war es Wut, Wut auf irgend etwas Bestimmtes. Seine starken Männerhände zitterten.
    »Erinnern Sie sich an Pam?« fragte er eindringlich.
    »Ja, natürlich. Aber -«
    »Dieses Mädchen ist in der gleichen Lage. Ich kann mich nicht um sie kümmern, jedenfalls nicht im Augenblick. Ich muß noch was erledigen.«
    »Was haben Sie vor, John?« fragte Sandy mit einer ganz anderen Art von Dringlichkeit in der Stimme. Und dann plötzlich wurde ihr alles klar. Die Fernsehnachrichten, die sie auf ihrem Schwarzweißfernseher in der Küche verfolgt hatte. Der Ausdruck in seinen Augen, der ihr damals im Krankenhaus aufgefallen war, jetzt sah sie ihn wieder, nur daß er außerdem noch ihr Mitgefühl und ihr Vertrauen erbat.
    »Man hat sie fast zu Tode geprügelt, Sandy. Sie braucht Ihre Hilfe.«
    »John«, flüsterte sie. »Sie... Sie legen Ihr Leben in meine Hände, John.«
    Auf diese Bemerkung brachte Kelly fast etwas wie ein Lachen zustande; ohne jeden Funken von Ironie platzte es aus ihm heraus. »Na ja, das erste Mal haben Sie das ja auch ganz gut hingekriegt.« Er schob Doris über die Schwelle und ging dann, ohne zurückzublicken, zu seinem Auto.
    »Mir ist schlecht«, sagte Doris. Sandy eilte mit ihr in das Badezimmer im ersten Stock. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig bis zur Toilette. Die junge Frau kniete sich ein oder zwei Minuten davor und leerte ihren Mageninhalt in die weiße Porzellanschüssel. Als sie fertig war, sah sie auf. Für Sandy O'Toole wirkte ihr Gesicht im Schein der Neonröhren, der von den weißen Wänden zurückgewo rfen wurde, als käme sie geradewegs aus der Hölle.

20 Unter Druck
    Es war bereits vier Uhr vorbei, als Kelly auf den Parkplatz des Yachthafens einbog. Er parkte den Scout mit der Rückseite zum Heck seines Bootes und stieg aus, um die Ladeluke zu öffnen. Er sah sich um, ob in der Dunkelheit keine unerwünschten Zuschauer verborgen waren, aber zum Glück war niemand da.
    »Raus da«, wies er Billy an. Der folgte dem Befehl. Kelly schob ihn an Bord und führte ihn in den Salon. Dort nahm er eine Kette, die zur normalen Bootsausstattung gehörte, und fesselte Billy mit den Handgelenken an eine Metallverstrebung. Zehn Minuten später hatte die Springer abgelegt und steuerte hinaus in die Bucht. Jetzt endlich konnte Kelly aufatmen. Während er das Boot dem Autopiloten anvertraute, lockerte er das Elektrokabel an Billys Armen und Beinen.
    Kelly war müde. Billy vom Volkswagen in den Scout zu bugsieren war schwerer gewesen als erwartet. Zum Glück war ihm wenigstens nicht der Zeitungsverteiler über den Weg gelaufen, der seine Stapel an den Straßenecken deponierte, damit die Zeitungsjungen sie dort abholten und noch vor sechs austrugen. Kelly ließ sich in den Sessel am Kontrollpult sinken und trank eine Tasse Kaffee. Dabei streckte er sich, um seinen Körper für die Anstrengungen zu belohnen.
    Er hatte die Lampen so weit wie möglich heruntergedreht, damit ihn der Lichtschein in der Kajüte nicht beim Navigieren blendete. Weit draußen auf Backbord lagen ein halbes Dutzend Frachtschiffe am Seehafen Dundolk, doch die Bucht vor ihm war leer. Zu dieser Tageszeit hatte das Meer etwas Beruhigendes. Da sich der Wind gelegt hatte, glich die Wasserfläche einem glatten, leicht wogenden Spiegel, der die Lichter am Ufer reflektierte. Von den Bojen blinkten rote und grüne Signale, um die Schiffe von gefährlichen Untiefen fernzuhalten. Die Springer zog an Fort Carroll vorbei, dem niedrigen Achteck aus grauem Stein, das von Lieutenant Robert E. Lee von dem Ingenieurcorps der U.S. Army erbaut worden war; noch vor sechzig Jahren hatte es Zwölf-Zoll-Gewehre beherbergt. Im Norden schimmerte das gelbrote Feuer aus den Hochöfen der Bethlehem-Stahlwerke am Sparrow Point. Einer nach dem anderen verließen jetzt die kleinen Schlepper ihre Liegeplätze, um die Schiffe vom Kai ins offene Meer zu ziehen oder einfach nur in ein anderes

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