01 - Gnadenlos
Hafenbecken. Das Tuckern ihrer Dieselmotoren klang leise und freundlich über die stille Wasserfläche. Irgendwie wurde durch ihr Geräusch der Frieden vor Sonnenaufgang nur noch mehr betont. In der Stille lag etwas überwältigend Tröstliches, so wie es sein sollte, wenn man sich auf einen neuen Tag vorbereitete.
»Verdammt, wer sind Sie?« fragte Billy, als Kelly ihm den Knebel abgenommen hatte. Offensichtlich konnte er das Schweigen nicht länger ertragen. Die Hände waren ihm weiterhin am Rücken zusammengebunden, doch da seine Füße frei waren, hatte er sich auf den Boden der Kajüte gesetzt.
Kelly nahm einen Schluck von seinem Kaffee und entspannte die müden Armmuskeln. Die Worte des Mannes hinter sich beachtete er nicht.
»Verdammt, ich habe gefragt, wer Sie sind!« rief Billy, lauter als zuvor.
Es würde ein heißer Tag werden. Der Himmel war klar, und kein einziges Wölkchen verdeckte die schimmernden Sterne. »Morgenrot, schlecht Wetter droht« - dieser Spruch hatte heute keine Gültigkeit. Die Außentemperatur betrug bereits 25 Grad, und das ließ einiges für den kommenden Tag befürchten. Wahrscheinlich würde die Augustsonne gnadenlos auf die Erde herabbrennen.
»He, du Arschloch, ich will wissen, wer du bist!«
Kelly verlagerte sein Gewicht in dem breiten Sessel vor dem Kontrollpult und trank einen weiteren Schluck Kaffee. Wie üblich verlief sein Kurs am südlichen Rand der Fahrrinne. Ein hellerleuchteter Schlepper kam mit zwei Lastkähnen im Schlepptau herein, wahrscheinlich von Norfolk. Es war zu dunkel, um die Ladung der Kahne zu erkennen. Kelly musterte ihre Lichter und sah, daß sie ordnungsgemäß angeordnet waren. Das würde der Küstenwache gefallen, die nicht immer mit der Art einverstanden war, wie die örtlichen Schlepper operierten. Kelly fragte sich, was das für ein Leben war, wenn man Lastkähne durch die Bucht schleppte. Es mußte furchtbar langweilig sein, tagaus, tagein das gleiche zu tun, hin und zurück, nach Norden und nach Süden, mit nie mehr als sechs Knoten und ohne je was Neues zu sehen. Allerdings lohnte sich das Geschäft. Ein Kapitän, ein Maat, ein Maschinist und ein Koch - ein Koch gehörte unbedingt dazu. Vielleicht noch ein oder zwei Matrosen, aber das wußte Kelly nicht genau. Und ein jeder bekam seinen Tariflohn, der nicht von schlechten Eltern war.
»Also gut. Ich weiß zwar nicht, wo das Problem liegt, aber wir können doch wenigstens drüber sprechen!«
Frachtschiffe in den Hafen zu bringen war allerdings keine leichte Sache. Besonders bei Wind, denn die Kähne ließen sich nur schwer manövrieren. Aber heute nicht, heute würde es windstill bleiben. Und heiß wie in der Hölle. Nachdem Kelly Bodkin Point passiert hatte, steuerte er die Springer nach Süden. Jetzt sah er die roten Warnlichter der Brücke über der Bucht bei Annapolis. Am östlichen Horizont zeigte sich der erste Schimmer der Morgendämmerung. Im Grunde fand er es traurig, denn die letzten beiden Stunden vor Sonnenaufgang waren die schönste Zeit des Tages. Doch nur wenigen Menschen war dies bewußt; es gehörte zu den Dingen, die die meisten Leute nicht mitbekamen. Kelly glaubte, etwas vor sich zu sehen, doch die Glasscheibe begrenzte sein Sichtfeld. Deshalb verließ er das Kontrollpult und ging an Deck. Dort nahm er erst sein Fernglas und dann das Mikrofon seines Funkgeräts zur Hand.
»Motorjacht Springer ruft das Boot der Küstenwache, over.«
»Hier spricht die Küstenwache, Portagee am Mikrofon. Was machen Sie denn in aller Hergottsfrühe hier draußen, Kelly? Over.«
»Ich gehe meinen Geschäften nach, Oreza. Und welche Ausrede haben Sie? Over.«
»Wir halten Ausschau nach solchen Leichtgewichten wie Ihnen, damit wir sie retten können. Wir müssen schließlich in Übung bleiben. Over.«
»Das höre ich gern, Küstenwache. Also: Sie verschieben diese Hebeldingsbums in Richtung Vorderseite des Boots - das ist gewöhnlich das spitze Teil -, und es fährt schneller. Und das spitze Teil fährt genau in die Richtung, in die Sie den Hebel drehen - bei links geht's nach links, und bei rechts geht's nach rechts. Over.«
Kelly hörte über die UKW-Frequenz, wie Orezas Leute lachten. »Roger. Ich werde die Mannschaft davon in Kenntnis setzen. Vielen Dank für den guten Rat Sir. Over.«
Nach langen acht Stunden Patrouillendienst war die Mannschaft auf dem Wachboot erschöpft und nicht mehr zum Arbeiten aufgelegt. Oreza überließ das Steuerrad einem jungen Seemann. Er selbst lehnte
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