01 - Gnadenlos
Den einen hatte er erzählt, man hätte bei der Aktion einen Mann gefangengenommen, der dann an seinen Verletzungen gestorben sei. Die zweiten hatten zu hören bekommen, der Russe sei so schwer verwundet, daß er eventuell nicht durchkommen würde. Doch das beste Netz hatte er an der Stelle ausgelegt, die er für das wahrscheinlichste Leck hielt. Nun hatte er Klarheit. Der Kreis war jetzt auf vier Verdächtige begrenzt. Roger MacKenzie, sein Grünschnabel von Berater und zwei seiner Sekretäre. Eigentlich wäre das ein Auftrag für das FBI gewesen, doch er wollte zusätzliche Komplikationen vermeiden. Und eine geheimdienstliche Untersuchung in einer Behörde des Präsidenten der Vereinigten Staaten war so ungefähr das Komplizierteste, was man sich vorstellen konnte. Als er in seinem Auto saß, beschloß er, sich mit einem Freund aus der Abteilung für Ausstattung und Technologie des CIA zu treffen. Ritter hatte großen Respekt für Woloschin. Der Mann war klug, vorsichtig und ging überlegt zu Werke, wie er als Agentenführer seiner zahlreichen Leute in ganz Europa bewiesen hatte. In die Residentur in Washington war er erst kürzlich berufen worden. Er würde sein Wort halten und gleichzeitig darauf achten, daß er sich mit seinen Abmachungen nicht in Schwierigkeiten brachte, indem er sich strikt an die augenblicklichen Regeln seiner heimischen Organisation hielt. Darauf legte Ritter größten Wert. Und wenn man diesen Erfolg gemeinsam mit dem anderen Coup in Betracht zog, dann wäre jetzt eigentlich eine Beförderung angesagt. Wichtiger war ihm jedoch, daß er, der Sohn eines einfachen Texas Ranger, sich nach oben gedient hatte, also nicht zu den pickligen Proteges irgendeines Politikers gehörte. Er hatte als Kellner gejobbt, um sich seinen Abschluß in Baylor zu finanzieren. Sergej hätte das sicher als gute marxistisch-leninistische Tradition zu schätzen gewußt, schmunzelte Ritter, als er in die Connecticut Avenue einbog. Ein Sprößling der Arbeiterklasse auf dem Weg nach oben.
Für Kelly war es eine ungewöhnliche Methode, Informationen zu sammeln, und dazu doch so angenehm, daß er sich glatt daran gewöhnen konnte. Er saß an einem Ecktisch im Mama Maria's und arbeitete sich langsam durch seinen zweiten Gang - nein danke, keinen Wein, ich muß noch fahren. In seinem CIA-Anzug, mit dem neuen, sportlichen Haarschnitt und der sorgfältigen Aufmachung zog er die Blicke der wenigen alleinstehenden Frauen auf sich, und es gefiel ihm, daß er von der Kellnerin - vielleicht wegen seiner höflichen Umgangsformen - besonders zuvorkommend behandelt wurde. Die Qualität der angebotenen Speisen erklärte, warum das Lokal so voll war, und die zahlreichen Gäste erklärten, warum Tony Piaggi und Henry Tucker die Räumlichkeiten für eine ungestörte Unterredung gewählt hatten. Mike Aiello war in dieser Hinsicht sehr freimütig gewesen. Mama Maria's gehörte tatsächlich der Familie Piaggi und versorgte seit Beginn der Prohibition die örtliche Gemeinde nun schon in der dritten Generation mit Pasta und anderen, weniger legalen Leistungen. Der Besitzer war ein Bonvivant, der seine Stammkunden persönlich begrüßte und sie mit europäischer Beflissenheit zu den Tischen führte. Legt großen Wert auf Kleidung, stellte Kelly fest, während er über seinen Calamares Aussehen, Gesten und Eigenheiten des Mannes studierte. Da kam ein Schwarzer in einem gutgeschnittenen Anzug herein. Er schien das Lokal zu kennen, lächelte der Kellnerin zu und wartete ein paar Sekunden auf ihre Reaktion.
Piaggi blickte auf und eilte zum Eingang, nicht ohne vorher noch kurz die Hand eines Gastes zu schütteln, an dem er vorbeiging. Er begrüßte den Schwarzen und führte ihn an Kellys Tisch vorbei zu der Hintertreppe, die zu den Privaträumen führte. Niemand achtete sonderlich auf die beiden. Es waren andere schwarze Gäste im Lokal die behandelt wurden wie jedermann sonst auch. Nur daß diese Schwarzen ihr Geld mit ehrlicher Arbeit verdienten, wie Kelly zu wissen glaubte. Doch er durfte sich nicht ablenken lassen. Das ist also Henry Tucker. Der Mann, der Pam umgebracht hat. Er sah nicht unbedingt wie ein Monster aus. Aber das taten Monster selten. Für Kelly sah er aus wie eine Zielperson, und auch seine Besonderheiten registrierte Kelly sorgfältig. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß die Gabel in seinen Händen verbogen war.
»Was ist los?« fragte Piaggi im Hinterzimmer. Als guter Gastgeber goß er ihnen beiden ein Glas Chianti
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