01 - Gnadenlos
Visitenkarte.
»Hallo?«
»Lieutenant Charon? Hier spricht Quartermaster Oreza von Thomas Point.«
»Es ist schon reichlich spät«, gab Charon zu bedenken. Er hatte sich gerade schlafen legen wollen.
»Erinnern Sie sich an den letzten Mai, als wir das Segelboot gesucht haben?«
»Ja. Warum?«
»Ich glaube, wir haben Ihren Mann gefunden, Sir.« Oreza meinte zu hören, wie die Gedanken des anderen arbeiteten. »Wissen Sie mehr darüber?«
Das tat Portagee, und als er es ihm erzählte, spürte er, wie das Entsetzen ihn verließ.
»Wer ist der Captain bei der Staatspolizei, der den Fall leitet?«
»Er heißt Joy, Sir, Bezirk Somerset County. Kennen Sie ihn?«
»Nein.«
»Ach ja, und noch etwas anderes«, fiel Oreza ein.
»Was?« Charon machte sich eine Anzahl Notizen.
»Kennen Sie einen gewissen Lieutenant Ryan?«
»Ja, er arbeitet hier bei uns in der Stadt.«
»Er hat mich gebeten, einen Mann namens Kelly zu überprüfen. Sie haben ihn schon einmal gesehen. Erinnern Sie sich?«
»Was meinen Sie damit?«
»In der Nacht, als wir das Segelboot gesucht haben, trafen wir gegen Morgen den Mann auf der Jacht. Er lebt auf einer Insel nicht weit von Bloodsworth. Jedenfalls hat Ryan mich gebeten, ihn zu suchen. Und jetzt ist er wieder aufgetaucht, Sir. Vielleicht im Augenblick sogar in Baltimore. Ich wollte ihn anrufen, aber er war nicht da. Ich selbst war den ganzen Tag unterwegs; deshalb möchte ich Sie bitten, das weiterzuleiten.«
»Natürlich«, sagte Charon, dessen Gedanken sich mittlerweile überstürzten.
35 Umgangsformen
Mark Charon befand sich inzwischen in einer ziemlich heiklen Position. Daß er sich als Polizist hatte korrumpieren lassen, hieß noch lange nicht, daß er auch dumm war. Im Gegenteil, normalerweise ging er vorsichtig und überlegt zu Werke und war nicht blind für die Fehler, die er gemacht hatte. Und so war er wieder am Grübeln, als er das Gespräch mit dem Mann von der Küstenwache beendet und den Hörer aufgelegt hatte. Zunächst einmal würde Henry nicht gerade begeistert sein, wenn er erfuhr, daß er sein Labor losgeworden war und dazu noch drei Leute. Darüber hinaus sah es ganz so aus, als ob eine große Menge Drogen beschlagnahmt worden waren, und selbst Henrys Nachschub war begrenzt. Am schlimmsten aber war, daß sie nicht wußten, was der oder die unbekannten Täter überhaupt vorhatten.
Dieser Kelly hingegen war ihm inzwischen bekannt. Charon hatte den Faden sogar bis zu dem erstaunlichen Zufall zurückverfolgt, daß Pamela Madden an dem Tag, an dem sie Angelo Vorano ausgeschaltet hatten, von Kelly aufgelesen worden war. Sie mußte damals auf seinem Boot gewesen sein, keine sechs Meter vom Kutter der Küstenwache entfernt. Und jetzt wollten Em Ryan und Tom Douglas mehr über diesen Mann erfahren und hatten sogar zu der ungewöhnlichen Maßnahme gegriffen, ihn von der Küstenwache überprüfen zu lassen. Warum? Eine ergänzende Befragung eines Zeugen, der sich augenblicklich nicht in der Stadt befand, wurde gewöhnlich am Telefon erledigt. Em und Tom bearbeiteten den Springbrunnenmord sowie die anderen, die in den folgenden Wochen entdeckt worden waren. »Kelly ist einer von diesen reichen Pinkeln«, hatte Charon Henry neulich noch erklärt. Doch nun interessierte sich das Spitzenteam der Abteilung Gewaltverbrechen für den Mann. Er hatte direkten Kontakt zu einem der Verräter aus Henrys Organisation gehabt, er besaß ein Boot und lebte nicht weit von dem Labor entfernt, das Henry dummerweise immer noch benutzte. Das war eine außergewöhnlich lange und unwahrscheinliche Kette von Zufällen und um so besorgniserregender, als Charon - wie er jetzt begriff - nicht länger ein Polizeibeamter war, der Verbrechen untersuchte, sondern als Krimineller an den Verbrechen beteiligt war, die untersucht wurden.
Diese Erkenntnis traf den Lieutenant schwer. Bisher hatte er sich noch nie als Krimineller gesehen. Charon hatte immer geglaubt, er stünde über den Dingen, als Beobachter, der gelegentlich ein paar Fäden zog, doch nicht als Beteiligter an den Vorgängen, die sich vor seinem Auge abspielten. Schließlich konnte er die größte Erfolgsserie des Drogendezernats für sich verbuchen, die darin gipfelte, daß er persönlich Eddie Morello unschädlich gemacht hatte. In seinen Augen war das noch immer der geschickteste Schachzug in seiner beruflichen Laufbahn - hatte er doch einen Drogendealer in An wesenheit von nicht weniger als sechs Polizeibeamten durch einen
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